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Leipzig: Sisyphos tanzt – und lächelt nicht

Leipzig: Sisyphos tanzt – und lächelt nicht

35. euro-scene präsentiert „Le vent se lève“ – Gastspiel von Manuel Roque (Montreal)

Manuel Roque kam aus dem kanadischen Montreal mit zwei Tanzstücken nach Leipzig. Gemeinsam mit seinem Partner Nils Levazeux zeigt der die Performance „bang bang“. Wir sahen als Eröffnung vor der Festivaleröffnung das Solo “Le vent se lève”, ebenfalls in der Spielstätte Diskothek.

Von Moritz Jähnig

Stillstand vor dem Sturm

Minutenlange Bewegungslosigkeit. Der Tänzer Manuel Roque steht mit dem Rücken zum Publikum im Raum. Beinahe dunkle Hose, ärmelloses weißes Shirt, Schläppchen. Er steht da – reglos, schweigend – in einem Sound wie von Meereswellen, ein Rauschen, ein Kommen und Gehen, an- und abschwellende Naturgewalt. Um ihn dunkle Wände, über ihm Lichter, mal dreizehn, mal neunzehn, mal nur eine einzige Leuchte in der Mitte, auch ihr Licht pulsiert, atmet, schwillt an und ab.
Licht und Rauschen. Die zwei Kräfte, die für sich genommen Ruhe ausstrahlen, aber hier eine Ruhe, die bedrängt, die wie eine unsichtbare Wand auf den Körper drückt.

Der Tänzer Manuel Roque

Der Körper gegen den Widerstand

Langsam beginnt der Tänzer dagegen anzulaufen. Erst vor und zurück, ganz gerade, vor und wieder zurück. Dann wendet er den Körper, bewegt sich seitlich auf dieser Linie vor und zurück. Allmählich löst er sich von ihr, tastet den Raum ab, erobert ihn. Schritt für Schritt. Der Körper stemmt sich gegen etwas Unsichtbares – eine Schwerkraft, ein Druck, eine Macht. Man meint, sie selbst zu spüren, möchte sich innerlich mit dem Tänzer verbünden, mit ihm gegenhalten. Dessen Gesicht bleibt unbewegt. Kein Zucken. Kein Lächeln.

Die Scheinwerfer an der Decke verengen seinen Aktionsraum, schnüren den Tanz in ein Quadrat, das sich in einen Kreis verwandelt. An dessen Peripherie bewegt sich Roque – vor, zurück, rundherum. Sein Körper wird zum Kreisel. Mal kreisen die Arme, mal nur die Hände, dann der ganze Körper, in endlosen Pirouetten und schwindelerregenden Halbdrehungen. Schließlich dreht er sich so rasend, dass man den Blick abwenden muss, um nicht selbst den Halt zu verlieren. Man denkt an den Sema, den ekstatischen Tanz der Derwische, in dem sich das Körperliche in das Göttliche auflöst.

Sisyphos erhebt sich

Doch soviel sich Roque auch dreht – das Rauschen bleibt. Die Welt rauscht weiter. Die Bewegung der Natur kennt keine Erschöpfung. Schließlich legt sich der Tänzer aber flach auf den Boden, atemlos, ausgelaugt. Minutenlang verharrt er dort. Als er sich wieder erhebt, um erneut vor und zurück den Raum zu durchschreiten, markiert ein dunkler Schweißfleck den Punkt seiner Ruhe, den Abdruck seines Widerstands.

Die Performance endet, indem das Licht erlischt und wir uns, ebenso erschöpft, aus diesem Ausschnitt der Existenz ausblenden. Eine körperliche Höchstleistung.

„Le vent se lève“ ist ein zutiefst optimistisches Stück. Es zeigt einen Sisyphos, der nicht von den Göttern zu seinem Tun verdammt ist, sondern aus freiem Willen den Kampf aufnimmt – und nicht zerstört, sondern gestärkt aus ihm hervorgeht.

Danke fürs Mutmachen.

Annotation

“Le vent se lève”.

Choreografie, Performance Manuel Roque Zweite Besetzung Nils Levazeux Kostüme Marilène Bastien Lichtdesign Karine Gauthier Soundtrack Manuel Roque Mix und Sound-Beratung Pablo Geeraert Künstlerische Beratung, Dramaturgie Sophie Michaud, Lucie Vigneault Produktionsmanagement Mégane Trudeau

Produktion DLD – Executive/ Delegate Production + Development Koproduktion La Chapelle Scènes Contemporaines Förderer Conseil des Arts et des Lettres du Québec (CALQ) and the Conseil des Arts de Montréal (CAM) Gastspielförderung mit Unterstützung der Vertretung der Regierung von Québec in Berlin 

Kreation La Chapelle, Montreal, 12. November 2024 

Das Festivalprogramm

www.euro-scene.de

Credits

Besuchte Vorstellung 4.11.2025, veröffentlicht 5.11.2025

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig

Fotos: © Iona Dutz / Robin Pinedar

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