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Ein freier Geist

Ein freier Geist

Ein Portrait über Dr. Lothar Hiersemann

Seiner Geburtsstadt Leipzig ist er immer treu geblieben, auch wenn die Bergmanns-Figuren im Arbeitszimmer seiner Gohliser Wohnung seine anderen Wirkungsstätten andeuten. Über dem Gemälde eines Segelschiffs hängt eine Ofenkachel an der Wand mit dem Portrait des Dichters Joachim Ringelnatz. Die Bücherwand spiegelt ein breites Interesse wider. Ein Schrank birgt über einhundert wissenschaftliche Publikationen, die seinen Namen tragen – Dr. Lothar Hiersemann.

Er wurde in der Weimarer Republik geboren, wuchs in einem Deutschland unterm Hakenkreuz auf, legte im Nachkriegsdeutschland das Abitur ab und erfuhr die Gängelung der Partei in der DDR. Vielleicht ist es genau das, was seinen freien Geist bis heute schärft und politische Entscheidungen infrage stellen lässt. Dr. Lothar Hiersemann ist heute 90 Jahre alt. Sein Name taucht in Verbindung mit der Erforschung rezenter Erdkrustenbewegungen, technischer Denkmale sowie der Technik- und Wissenschaftsgeschichte immer wieder auf.

Forschung zu rezenten Erdkrustenbewegungen

„Ich wäre gern Seemann geworden und bin selbst auch mal kurz zur See gefahren wie Ringelnatz“, erzählt Hiersemann. Im Jahr 1954 arbeitete er beim Seehydrographischen Dienst an der Kartierung des Meeresgrunds. Hiersemann ist promovierter Geophysiker und forschte ab 1957 zur Aufzeichnung von langperiodischen, rezenten Erdkrustenbewegungen an der Bergakademie in Freiberg. Rezente Erdkrustenbewegungen sind beispielsweise Gezeiten der festen Erde, denn die Anziehungskraft der Sonne und des Mondes wirkt sich nicht allein auf die Wasserhülle, sondern auch auf die feste Erde aus, die nicht mit Pendelseismographen gemessen werden können. Dazu entwickelte, baute und testete Hiersemann das erste europäische Strainseismometer für langperiodische Erdbebenwellen und Gezeiten der festen Erde. Mit einer im Prinzip vergleichbaren Anlage wiesen 2019 Wissenschaftler in den USA erstmals Gravitationswellen nach. Wegen seiner Forschungsarbeit berief ihn die Internationale Kommission für rezente Erdkrustenbewegungen zu deren Sekretär und die Europäische Seismologische Kommission zum assoziierten Mitglied. „Ich habe diese Funktion aber nie ausüben dürfen“, erinnert sich Hiersemann, denn er war nie SED-Mitglied.

Der Weg in die Technikgeschichte

Mit der Hochschulreform von 1967 wurde seine Stelle an der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale an die Karl-Marx-Universität Leipzig verlegt. Dort durfte er seine Forschungsarbeiten nicht fortsetzen und wurde schließlich ganz aus der Geophysik gedrängt. Deshalb wechselte er 1969 an die Bauhochschule in Leipzig, wo er als Laborleiter wärme- und feuchtigkeitstechnische Untersuchungen an Bauelementen durchführte. „Von Studierenden und internationaler Forschung abgeschirmt, fühlte ich mich nicht ausreichend gefordert“, sagt Hiersemann.

Hiersemann engagierte sich ehrenamtlich in der Denkmalpflege. Sein Sektionsdirektor Prof. Eduard Steiger unterstützte ihn dabei. „Ich bin ihm bis heute dankbar, dass ich das machen durfte“, sagt Hiersemann. „Das ist der Weg, über den ich zur Technikgeschichte kam.“ Die Pflege technischer Denkmale zum Beispiel die Tagebautechnik war damals noch unterbewertet im Bezirk Leipzig.

Hiersemann wurde zum Vorsitzen der Bezirksleitung der Gesellschaft für Denkmalpflege ernannt und gleichzeitig er zum Leiter des Fachausschusses Volksbauweise im Zentralvorstand berufen. Er organisierte Fachtagungen zur Denkmalpflege. Für die Gestaltung des Deckblattes der Tagungsunterlagen suchte er einen Künstler und traf auf Klaus H. Zürner, woraus sich eine lange Zusammenarbeit entwickelte. In einem Einführungsartikel der Tagungsunterlagen übte Hiersemann Kritik an der städtebaulichen Denkmalpflege in Leipzig. Deshalb gab die SED-Bezirksleitung die Anweisung das schon gedruckte Tagungsheft einzuziehen und ohne den Hiersemann-Artikel auf der Tagung zu verteilen.

Wissenschaft und Parteipolitik

Für das 150-jährige Bestehen der Baugewerkenschule im Jahre 1988 sollte deren Geschichte erforscht werden. „Ich erhielt den Auftrag für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, weil ich als ungeeignet angesehen wurde, die neuere Geschichte im Sinne der Parteipolitik darzustellen“, erinnert sich Hiersemann. Darüber hinaus habe der Fokus der Parteileitung auf sozialistischer Hochschule gelegen. „Das Buch mit dem Titel Das technische Bildungswesen in Leipzig wurde gedruckt, kurz vor der Wende fertig, gelangte aber nie in den Buchhandel, weil die Genossen ihre eigenen Texte nicht mehr an die Öffentlichkeit gelangen lassen wollten.“

Berufung zum Hochschullehrer neuen Rechts und offizielle Einführung der Technikgeschichte

Die Hochschulleitung beauftragte Hiersemann 1988 mit der Leitung des Traditionskabinetts der Technischen Hochschule in Leipzig und er verwandelte es in eine Bildungs- und Begegnungsstätte für Technikgeschichte der Region Leipzig. Dazu etablierte er die Lehre, Forschung, Kolloquien und Exkursionen sowie die Publikationsreihe Beiträge zur Geschichte und Technik und technischer Bildung. Mit der Wende 1989 wurden die aktiven SED-Genossen an der Hochschule „abgewickelt“, wie es im Jargon der Zeit hieß. Das sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst berief Hiersemann 1991 zum Hochschuldozenten neuen Rechts für das Fach Technikgeschichte an die Technische Hochschule.

Bis 1995, einige Monate nach seiner Verrentung, blieb Hiersemann an der Technischen Hochschule und kümmerte sich weiter um Lehrveranstaltungen, Exkursionen mit Studierenden unter anderem nach Bayern, ins Ruhrgebiet, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg. In den Beiträgen zur Geschichte von Technik und technischer Bildung widmete Hiersemann ein ganzes Heft dem Mechaniker Jakob Leupold. „Dies führte zur Stiftung der Jakob-Leupold-Medaille, die seitdem jährlich für besondere wissenschaftliche Leistungen oder Verdienste um die Hochschule an der HTWK verliehen wird.“ Zudem erstellte er auch eine Gedankenstudie zur Schaffung eines europäischen Energie- und Umweltparks in dem Tagebaugebiet südlich von Leipzig. „Meine Gedanken fanden Eingang in die Gestaltung des Südraums von Leipzig“, nickt Hiersemann zufrieden.

Leipziger Techniker-Portraits

In der letzte Zusammenarbeit zwischen dem Maler Klaus H. Zürner und Hiersemann entstand in den Jahren 1992 bis 2007 die Portraitgalerie von 19 Leipziger Technikern für den Senatssaal der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kunst (HTWK) „als Ersatz für die in der DDR üblichen Gesinnungsanzeiger“. Heute sind die Gemälde aus dem Senatssaal verschwunden. „Ich hoffe und erwarte, dass sie vollständig an ihren Platz im Senatsaal zurückkehren“, so Hiersemann.  

Den Verein Industriekultur Leipzig e.V. nutzt er, um Erfahrungen, Wissen und eigene Perspektiven einzubringen. Dabei soll seine Kompetenz zählen, nicht seine Person, denn bei allem, was er geschaffen hat, weiß er andere Mitstreiter zu würdigen wie den verstorbenen Professor Doktor Otfried Wagenbreth, denn von dem Geologen und Montanhistoriker lernte er viel. Beim Verein für Industriekultur e.V. ist er regelmäßig Gast zu Vorträgen und hielt selbst einige. Er sprach über die Leipziger Technikerportraits, über Jakob Leupold und über Doktor Karl Erdmann Heine, der den Leipziger Westen nachhaltig gestaltete.

Heute als 90-Jähriger blickt er auf das Gemälde des Segelschiffes und die Ringelnatz-Kachel. Sie erinnern ihn an die Zeilen des Dichters, die in seinen Augen sein Leben am besten widergegeben: „Das Schiff, auf dem ich heute bin / Treibt jetzt in die uferlose / In die offene See – Fragt ihr >>Wohin?<< / Ich bin nur ein Matrose“. Das Schiff verstehe er als Allegorie, als Lebensschiff, auf dem er als alter Mann ohne Einfluss auf die Richtung ins Uferlose treibt. „Und niemand weiß, wohin es geht.“ Ringelnatz.

Mirco Mallek

veröffentlicht 26.05.2020

Foto: © moritzpress

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