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Emotionale Meisterleistung

Emotionale Meisterleistung

Václav Luks und das Collegium 1704 musizieren Bachs Matthäuspassion in der Annenkirche Dresden.

Die Konzertreihe „Musikbrücke Prag-Dresden“, gegründet 2008, besteht seit nunmehr 11 Jahren. Václav Luks, das Collegium 1704 und das Collegium Vocale 1704 widmen sich europaweit Entdeckungen aus der böhmischen und sächsischen Musikgeschichte. Soeben kam beim Label Accent die erste tschechische Einspielung von Händels „Messias“ heraus. Vor dem Konzert in der Dresdner Annenkirche am 10. April gastierte das Ensemble am 7. April mit der Matthäuspassion im Wiener Konzerthaus.

von Roland H Dippel

Oft dirigiert er mit fast zur Faust angewinkelten Fingern. Spezifisch sind auch die leichten Bewegungen aus den Handgelenken ohne zu häufige direkte Blicke auf seine Musiker, die dabei immer perfekte Präzision. Václav Luks hat alles unter Kontrolle in der nicht allzu großen Annenkirche Dresden. Das Collegium 1704 spielt auf dem Hauptaltar, die beiden Chöre stehen auf den vorderen Seitenemporen links und rechts. Trotzdem kommen die einzelnen und Doppelchöre nicht wie Pfeilregen, sondern bilden Kuppeln aus Tönen und Akkorden. Die Akustik ist für Barockmusik eigentlich zu voll, sogar dick. Aber das Ensemble Collegium 1704 kennt den Raum und macht aus Tücken Vorzüge.

Ein großartiger Konzertabend beginnt, weil Václav Luks mit seinen Musikern und Sängern keine große Devotion und Respekt vor Bachs „Matthäuspassion“ zeigt. Man hört deshalb auch keine gramvoll gemeißelte Pietät, sondern die immer ernsthafte Suche nach jeder Wirkungsmöglichkeit dieser Partitur. Das schließt die Suche nach Melos und Sinnlichkeit ein. Man hört zum Glück auch keine Genredefinition jenes Opus summum, mit dem Johann Sebastian Bach vor 1730 seinen Schaffensrausch im ersten Jahrzehnt seiner Tätigkeit als Thomaskantor in Leipzig krönte. Bei einer derartigen Kontrastierung und Synthese von Soli und Einzelstimmen wird es in Luks‘ sagenhaft dichter Interpretation egal, was Kantaten-, Passionen- oder Opernstil sein könnte. So wie jedes Soloinstrument seinen seinen wahrhaft großen, exponierten, schwebenden Moment erhält, fließen Solopartien und Chorstimmen ineinander.

Aus jedem Vokalcharakter der starken Ensembles scheint Václav Luks noch einen Funken mehr Individualität herauszuholen als man bei der Matthäuspassion eigentlich für statthaft halten könnte. Trotzdem entsteht kein Eindruck von Übersteigerung, sondern tiefer Vertrautheit mit der Partitur. Für Soli und Arien jeder Stimmlage gibt es mehrere Solisten: Im Alt hat Sophie Harmsen mit Melancholie in der Fülle ihres Mezzosoprans die Führung, im Sopran Céline Scheen mit dramatisch akzentuierender Kontur. Diese Matthäuspassion schöpft aus der Fülle.

Nur deshalb treten die Kollektive bei aller Klangschönheit und Textverständlichkeit gegenüber den Soli ungewohnt in den Hintergrund. Die Choräle, sonst Zielpunkte der Passionsdramaturgie, gehen voll in der dramatischen Wirkung auf. Eine Schwelle gibt es nur ein einziges Mal: Die Zeugenaussagen der Soliloquenten am Beginn des zweiten Teils klingen nicht so falsch wie gemeint, aber leicht unkonzentriert. Das wirkt wie berstender Innendruck und ist verzeihlich neben der intensiven Leistung eines Judas (Michal Dembínski), neben einem erst spät und in der letzten Bass-Arie mit umso mehr Intensität aus dem Chor heraustretenden Hugo Oliveira, angesichts der generell imponierenden Synergien zwischen Stimmen und Instrumenten.

Jan Martinik setzt nicht zu viel Legato in den Part des Heilands, hält ihn bewegend menschlich. Aber den Höhepunkt der ungestrichenen, deshalb fast dreistündigen Matthäuspassion bilden zwei Tenöre: Eric Stoklossa ist ein Evangelist von Ausnahmerang mit packender Verbindung von ästhetischer Schönheit, Textdurchdringung und immer genau ausbalancierter Dramatik. Auch von ihm wird jeder Ton gesungen, kein einziger rezitiert. Krystian Adam, Tenor-Solist in Václav Luks‘ gerade erschienener „Messias“-Einspielung, verbindet mozartnahes Farbenspiel und einen starken Puls, der dennoch jede extrovertierte Pose scheut.

Das Collegium 1704 und das Collegium Vocale 1704 suchen die Emotionen nicht, aber leisten auch keinen Widerstand gegen diese, wenn diese sie aus der Partitur anspringen. Nach erbetener Schweigeminute intensiv verhaltener Applaus.

 

Annotation

Besuchtes Konzert: Mi 10.04.2019, 19.30 Uhr (Annenkirche Dresden) – Musikbrücke Prag-Dresden; veröffentlicht: Freitag, 12.April 2019

Was noch:

Musikbrücke Prag-Dresden 2019/20, Annenkirche Dresden – Collegium 1704, Václaw Luks – Höhepunkte: 25.10.2019, 19:30: Händel, La Resurrezione (mit Julia Lezhneva) – 13.11.2019, 19:30 Vivaldi, Arsilda regina di Ponto (konzertant) – 06.02.2020, 19:30: Stradella, San Giovanni Battista (www.collegium1704.com)

Credits:

Foto (c) Petra Hajska

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