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Glückshäschen, komm!

Glückshäschen, komm!

Unsichtbarer spaltet und eint im Leipziger Schauhaus eine Familie.

Elwood Dowd ist einer der nettesten Menschen der Welt, aber er nervt. Elwood hat einen Freund, der heißt Harvey, den schleppt er überall hin mit. Wäre kein Problem, wenn Harvey nicht zwei Meter zehn und ein Hase.

Von Henner Kotte

 

Verständlich, dass das Tier keiner sieht. Veta Louise, Elwoods Schwester, kann mit Argumenten Harveys Existenz nicht bestreiten und ist scharf aufs Haus und das Erbe. Eine Psychiatrie scheint das Beste für Elwood. Dumm nur, dass sie selbst bei Dr. Chumley in die Zelle gerät, denn wer glaubt einer Dame, die von einem unsichtbaren Riesenhasen erzählt …

Mary Chase, amerikanische Schriftstellerin mit irischen Wurzeln, hat sich mit „Mein Freund Harvey“ 1944 in die Herzen des Publikums und auf alle Theaterbühnen der Welt geschrieben. Sprichwörtlich ist ihr weißer Hase geworden und Synonym für den „Sieg der Poesie über den grauen Alltag und die Kraft der Güte“. Mehrmals verfilmt ist das Stück, Hauptrolle: u.a. James Stewart, Heinz Rühmann und Harald Juhnke.

In der Mythologie hat’s immer solche unsichtbaren Helfer gegeben, im Privaten nennt man sie Tagebuch oder Selbstgespräch. Doch wenn sie (beinah) Gestalt annehmen, ist’s mit dem Familienfrieden dahin. Solchem Phänomen ist jeder schon einmal begegnet und hielt Oma und Opa, den Nachbarn, den Kollegen für ganz nett, aber ein bissel verschroben. Andrerseits aber macht solch ein Freund, wenn man ihn hat, Mut, zeigt Verständnis und hilft aus allen schrecklich peinlichen Lebenslagen heraus. Man muss Harveys Existenz bloß akzeptieren. Im Stück arrangieren sich mit dem Hasen schlussendlich alle Dowds, das medizinische Personal, gar der Anwalt und werden sowas wie glücklich damit. Welch Happy End, welch eine Freude! Dem Leipziger Publikum hat’s gefallen, und alle haben den Hasen gesehen. Einfach riesig!

Enrico Lübbe hat die gute Mär auf die große Bühne des Schauhauses gesetzt. Etienne Pluss hat ein herrlich abgeranztes Vestibül fürs Geschehen geschaffen, denn, seien wir ehrlich, am Pulse der Zeit hängt das Stück nun mal nicht. So erinnern Interieur und die Kostüme von Bianca Deigner an die Kamellen der herrlichen Hollywood-Zeit, als Ginger und Fred tanzten, Judy Garland sang und Kirk Douglas noch kämpfte. Michael Pempelforth gibt den Elwood und ist einfach zum Knuddeln. Er öffnet Harvey die Tür, bietet ihm Platz und schaut zu ihm treuherzig auf. Annette Sawallisch als böse Veta lässt die Sau raus, und ihr Töchterchen Katharina Schmidt tut es ihr gleich. Denis Petković als dicker Psychiater steht in der Tradition von Ostendorf und Paul Dahlke und stößt nachfühlbar an die Grenzen der Realität. Thomas Braungardt ist als Psychatriehelfer zackig, aber zeigt auch Gefühl. Herzig das junge Pärchen Julia Berke und Julius Forster. Dirk Lange als schmieriger Anwalt weiß sich der Situation anzupassen, auch wenn es ihm schwerfällt. Erwähnt seien Anne Cathrin Buhtz als Tante und schräge Frau vom Direktor in schönen Schuhen. Und Christoph Müller ist ein Taxichauffeur, der auf seinen Lohn pocht. Ein ausgewogenes Ensemble, dem der Regisseur reichlich Raum lässt. Das Publikum hat seine Freude.

Höhepunkt aber ist die Figur, die nur Elwood als Handelnder sieht. Nein, nicht Harvey, den Hasen, sondern den betagten Butler Tilo Krügel. Die gute Seele des Hauses muss schon Jahrzehnte fürs Wohl der Bewohner wohl sorgen: Der Rücken gekrümmt, die Arme zu lang, die Finger treffen kaum noch die Tasten der Orgel. Aber stets ist der Diener zur Stelle trägt Torten, bringt Milch und staubt ab. Ein dramaturgischer Kniff, der die betagte Erzählung wunderbar aufpeppt. Und Tilo Krügel, der kann‘s halt: Wir haben Mitleid und Scheu, fühlen uns beim Lachen über den armen Alten ertappt. Über ihn sehen alle Akteure hinweg, nur der Elwood streicht ihm mal über die Schulter. Das Publikum belohnt ihn für seine schwere Arbeit mit lautem Rufen. Bravo! Wir schließen uns an.

Nun muss man von der guten Absicht des Stückes nichts weiter schreiben: Anschaulich, dass Toleranz und offene Herzen, Menschen miteinander besser leben lassen als im blanken Hass. Dafür kann man auch die kleinen Lebenslügen verzeihen, die zum Mensch neben einem gehören: „Hast du abgenommen? Jedenfalls siehst du bezaubernd aus, Schatz!“ In diesem Sinne: Glückshäschen, folgt.

 

Annotation

„Mein Freund Harvey“ von Mary Chase, Deutsch von Alfred Polgar, Schauspiel Leipzig, Premiere 18. Januar 2020. Besetzung: Michael Pempelforth als Elwood P. Dowd; Annett Sawallisch als Veta Louise Simmons, seine verwitwete Schwester; Katharina Schmidt als Myrtle Mae, deren Tochter; Dirk Lange als Omar Gaffney, Anwalt der Familie Dowd; Denis Petković als Dr. William R. Chumley, Psychiater; Anne Cathrin Buhtz als Betty Chumley, seine Frau / Mrs. Ethel Chauvenet; Julia Berke als Ruth Kelly, Oberschwester in Chumleys Sanatorium; Thomas Braungardt als Marvin Wilson, Angestellter des Sanatoriums; Julius Forster als Dr. Lyman Sanderson, Psychiater; Christoph Müller als E. J. Lofgreen; Taxi-Chauffeur Tilo Krügel. Team: Regie Enrico Lübbe; Bühne Etienne Pluss; Kostüme Bianca Deigner; Dramaturgie Torsten Buß; Licht Ralf Riechert

 

 

Was noch?

Nächste Termine: Sa, 25.01. 19:30 Uhr; Do, 06.02. 19:30 Uhr; Sa, 22.02. 19:30 Uhr

 

Credits:

Besuchte Vorstelllung: Premiere 18.1.2020; veröffentlicht: 19.1.2020

 

Fotos (3): © Schauspiel Leipzig/Rolf Arnold

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