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Hannover: Völlegefühl nach Mondtag-Show

Hannover: Völlegefühl nach Mondtag-Show

Stephan Zilias dirigiert Marschners „Vampyr“ in Hannover phänomenal.

Intendantin Laura Berman nannte den Komponisten Heinrich August Marschner bei ihrer Begrüßung vor der „Vampyr“-Premiere hymnisch ihren Amtsvorgänger. Marschner war in Hannover als Komponist nicht mehr so erfolgreich wie in Leipzig, wo „Der Vampyr“ (1828) und seine „Ivanhoe“-Oper „Templer und Jüdin“ ihre Uraufführung erlebten, oder wie in Berlin mit „Hans Heiling“. Eine Gedenktafel am Ranstädter Steinweg erinnert an den Entstehungsort eines Hauptwerks der deutschen Romantik. Stephan Zilias lieferte am Dirigentenpult eine satte Leistung. An der Oper Leipzig dirigiert er ab 23. April Carl Nielsens „Maskerade“.

von Roland H Dippel

Szene mit Benny Claessens Nikk Treurniet Torben Appel

Oft wurde Marschners kompositorische Fantasie gezähmt und ihr das Potenzial entzogen, was sie hat. Hans Pfitzner leistete 1896 ein folgenreiches Verschlimmbesserungswerk, indem er in seiner Bearbeitung alle virtuosen Italianismen eliminierte und damit den „Vampyr“ für das ganze 20. Jahrhundert banalisierte, bis sich Hof und Koblenz an die Originalfassung erinnerten

Vom erfreulich jungen Premierenpublikum wurde das Ersan-Mondtag-Event an der Niedersächsischen Staatsoper Hannover bejubelt wie die „Rocky Horror Show“. Es fehlten nur die Eiswürfel für noch mehr Schreckensschauer in Ersan Mondtags furioser Schwarzer (Erdöl-)Messe. Wieder einmal präsentierte dieser sein immenses kulturgeschichtliches und esoterisches Wissen mit szenischem Raubbau an den dramatischen Ressourcen. Der Abend zerfledderte in Bilderflut wegen Mondtags Misstrauen gegen konzentrierte Stille und leise Worte ohne Mikroport.

Vor der zertrümmerten Hannoveraner Synagoge tummeln sich in seinem Bühnenbild und in den Kostümen von Josa Marx Geister, Nachtmahre und alle „Schutzengel der Hölle“ mit dem gesamten Zeichenapparat von Gustave Doré, HR Giger, Breughel, William Blake. Dieses Ambiente ist bildgewaltig und verrückt – im besten Sinn. Auf einem Schuttberg begegnen sich der ‚ewige Jude‘ Ahasver (Jonas Grundner-Culemann), die babylonische Große Mutter Astarte (Oana Solomon) und der aparte Titelheld Lord Ruthwen – der bleiche Mann trägt Ohrstecker, Ringe und weiße Schlagärmel. Fröhliches Wissensquiz: Till Briegleb hat für Mondtag viel Gebildetes in die Dialoge hineingeschrieben – Event und Kulturvermittlung würden nahezu ineinander aufgehen, wenn nicht alles auf Dauer so flach, elliptisch und fragmentarisch wäre. Die Wertminderung durch das Wühltisch-Massenangebot von Spitzen und Zeichen funktioniert nachhaltig.

Das muss man vor allem Mondtags Ahnungslosigkeit betreffend Musiktheater-Ressourcen zuschreiben. Allzu viel ließ er ungenutzt. Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover zuvorderst und auch der satt-grob-hymnische Chor der Staatsoper (Leitung: Lorenzo del Rio!) erbringen die längst fällige Marschner-Apotheose: GMD Stephan Zilias beginnt ‚voll normal‘. Er weiß, dass man die musikalischen Scharniere der Schauerromantik manchmal verstecken muss. All das, wo Marschner Webers „Freischütz“ weiterdenkt und doch nicht übertrifft, gewinnt Hoffmanneske Doppelgründigkeit, Eine Verwunschkonzertung findet nicht einmal dann statt, wenn Marschner leicht teutonisch von Rossini träumt. Biss haben das Brio und die Virtuosität Malvinas. Mercedes Arcuri gibt mit Designer-Leggins und voll blond eine Stadttheater-Diva von altem Schlag. Norman Reinhardt bleibt als Ruthwens Gutmensch-Kontrahent Aubry etwas blässlich.

Benny Claessens, Mondtags Bühnenfaktotum wird zu einem klabauternden Lord Byron. Eine Shakespearesche Narrendimension kommt damit nicht ins Stück. Wohl aber plättet Mondtag seinen starken Beginn mit antipatriarchaler Vampyrmeisterin im Amazonenpanzer und einem Ahasver aus der Nazarenermalerei ins zünftig Bodenständige. Wenn es auf die ausdrucksstarke Engführung von Persönlichkeit, Inhalt und Intensität ankommt, lässt Mondtag sein Ensemble fast immer im Stich. Das merkt man sofort, wenn Kostüm und Posen nicht alles sein kann, etwa bei Waronika Rabeks Suse-Couplets und vor allem bei der Emmy von Nikki Treurniet. Die Ballade vom „bleichen Mann“, womit Marschner Wagner den Kreativkick zum Geniewurf von Sentas Holländer-Ballade zuwirft, singt Treurniet tendenziell uninspiriert. Mit Episodenpartien wie Sir Berkeley (Daniel Eggert), Janthe (Petra Radulovic) und George Dibdin (Philipp Kapeller) weiß Mondtag nichts anzufangen.

Zufälligerweise stehen der Ölmogul Sir Humphrey (vitaler Singdarsteller von prächtigem Format: Shavleg Armasi) und der Vampyr an der Kapelle wie dunkle und helle Figur an der Wetteruhr. Michael Kupfer-Radlecky verdichtet Mondtags salopp wie famos erdachten Vampyr mit der verhaltenen und porösen Glut des Schubert-Kenners, bereichert die Figur faszinierend und beklemmend. Er ist das künstlerische Zentrum des Abends.

ANNOTATION

„Der Vampyr“. Große romantische Oper von Heinrich Marschner, Libretto von Wilhelm August Wohlbrück. Staatstheater Hannover. Niedersächsisches Staatsorchester Hannover, Musikalische Leitung Stephan Zilias / Giulio Cilona, Inszenierung und Bühne Ersan Mondtag, Künstlerische Mitarbeit Simon Lesemann, Kostüme Josa Marx, Licht Sascha Zauner, Chor Lorenzo Da Rio, Dramaturgie Till Briegleb / Julia Huebner, Xchange Kirsten Corbett.

Besetzung: Sir Humphrey, Laird van Davenaut Shavleg Armasi, Malwina Mercedes Arcuri, Edgar Aubrey Norman Reinhardt, Lord Ruthwen Michael Kupfer-Radecky, Sir Berkley Daniel Eggert, Janthe Petra Radulovic, George Dibdin Philipp Kapeller, Emmy Nikki Treurniet, James Gadshill Pawel Brozek, Richard Scrop Peter O’Reilly, Robert Green Darwin Prakash / Gagik Vardanyan, Toms Blunt Markus Suihkonen, Suse Weronika Rabek, Astarte, die Vampyrmeisterin Oana Solomon, Lord Byron Benny Claessens, Ahasver Jonas Grundner-Culemann / Torben Appel. Chor der Staatsoper Hannover, Statisterie der Staatsoper Hannover

CREDITS

Fotos (2): © Sandra Then

Text: Roland Dippel, freier Journalist, Theater- und Musikkriter, Leipzig/München

Premiere und besuchte Vorstellung: 25.03.2022; veröffentlicht 26.03.2022

weitere Vorstellungen: 31.03., 08.04., 21.04.,23.04., 30.04., 06.05.

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