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Jenseits auftrumpfender Virtuosität

Jenseits auftrumpfender Virtuosität

Die Philharmonie Leipzig veröffentlicht ihre Einspielung von Dvořáks „Aus der Neuen Welt“

Von Roland H. Dippel – 16.03.2023

Wer sich mit Antonín Dvořáks Neunter Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ gegen die Überflut von Konkurrenz- und Referenzaufnahmen dieses überaus beliebten Orchesterstücks stemmt, hat äußerst gewichtige Gründe – oder besondere. Die Philharmonie Leipzig kann diese vorweisen. Das Orchester ist mit einem Alter von knapp über 20 Jahren erstaunlich jung für die vom Thomaskantor Johann Sebastian Bach, Konservatorium-Gründer Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Musikdramatiker Richard Wagner und vielen anderen geprägten Annalen der Musikstadt. Jugendliche Werke für ein junges Orchester ist ein gutes Argument – und ein solches ist Dvořáks Neunte. Bei Vorbereitungen zu einer Einspielung auf historischen Instrumenten stellten der belgische Dirigent Jos van Immerseel und die Musiker des Orchesters Anima Eterna Brügge in amerikanischen Archiven fest, dass Dvo?áks Orchester bei der Uraufführung am 16. Dezember 1893 in New York aus europäischen Einwanderern bestand, die ihre Instrumente aus der alten Heimat mitgebracht hatten. Und außerdem sollte Dvořáks – gerade 51 Jahre alt – extra von Prag aus zum Direktor der New Yorker Musikhochschule berufen werden und den Amerikanern eine eigene Nationalmusik kreieren. Noch immer besteht demzufolge bei Orchestern und in der Wissenschaft keine Einigkeit darüber, ob Dvořáks in seiner Symphonie „Aus der Neuen Welt“ böhmisches oder amerikanisches Musikgut verwendet hatte. Oder beides in Mischung.

Die Philharmonie Leipzig, ein Ensemble aus Studierenden der Hochschule von Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ und Leipziger Konzertorchestern, steht einerseits natürlich in der Tradition des heute als Mitteldeutschland bezeichneten Kulturraums, zu dem während Dvořáks Lebenszeit auch noch die Prager Orchester auf der anderen Seite des böhmisch-sächsischen Erzgebirges zählten. Die Neuveröffentlichung entstand um ein Konzert in der Philharmonie Berlin am 4. Oktober 2020. Auch dieses hatte unter dem Titel „Aus der Neuen Welt“ als Hommage „100 Jahre Astor Piazolla“ einen Bezug zum amerikanischen Kontinent. Wenn man das weiß, erklärt sich das spezifische akustische Flair, welches Dirigent Michael Köhler substanziell verdichtet. Jede Gruppe der Philharmonie Leipzig klingt dicht bis kurz vor der Üppigkeit, ohne dass es in der Gesamtheit zu Verdickungen käme. Das zum Beispiel von Rafael Kubelik und Václav Neumann etwas dynamischer genommene Brio des ersten Satzes ruht mehr in sich. Und die tänzerischen Aufschwünge des Finales, die hier fast wie bestens strukturierte Kammermusik wirken, haben bei dem Orchester aus der Stadt, welche Max Kalbeck den „Kopf der Musik“ nannte, mehr Versonnenheit. An diesen und anderen Stellen wird klar, dass Köhler und Konzertmeister Holger Engelhardt sich eher den gerundeten Topoi der europäischen Kunstmusik als der experimentellen, in ihrer Tempo-Motorik dem aufkommenden Jazz entgegenfiebernden amerikanischen Musik verpflichtet fühlen. Die tieferen Grundierungen in der Staffelung und Stimmakzentuierungen geben der Aufnahme überzeugende Substanz und künstlerisches Gewicht. Vor allem hört man bei dieser Herangehensweise einiges, was sonst hinter Dvořáks Tonsatz und hinter den möglichen Schwelgereien unbemerkt bleibt.

Köhler und die Philharmonie Leipzig haben keine Originalklang-Ambitionen, agieren aber – Herkunft verpflichtet – immer sehr analytisch und sind auf ihre Beziehung zu den Ortstraditionen um den Gewandhaus-Mount-Everest bedacht. So gelingt eine Einspielung, die sich erfreulich vom Gros der rein schwelgerischen, mitunter aber auch spekulativen Interpretationen der Diskographie und in den Mediatheken abhebt. Jenseits einer exaltierten Sanglichkeit und auftrumpfenden Virtuosität gibt Philharmonie Leipzig die Frage, was denn an diesem Favorit-Stück böhmisch oder amerikanisch ist, einfach an die Hörer weiter. Man hört Sinfonik von hohem europäischem Format, wobei den von Dvořáks reichlich verteilten Glücksmomenten eher nobel als marktschreierisch gehuldigt wird. Dvořáks wird so vom eher verspielten jüngeren zum gleichaltrigen Bruder nicht nur von Brahms, sondern auch von Bruckner. Also doch eine Einspielung mit erfreulich individuellem Potenzial und hörenswert künstlerischer Eigenständigkeit.

Bewertung

Wir vergeben 4,5 von 5 möglichen Kunst&Technik-Sternen.

Titelangaben

Dvořáks: Symphony No. 9 „From the New World“, Op. 95: EAN 42 603 1221 549 3 (Label GMO Köln – https://gmo-thelabel.com)

Vertrieb: ALIVE

Streaming-Dienste

https://open.spotify.com/abum/750wyRGQ4xRGPFxnJP9MUV?si=8G37pq7mSMqqiUl38bS9NA
https://music.apple.com/us/album/dvo%C5%99%C3%A1k-symphony-no-9-from-the-new-world-op-95/1657170014
https://tidal.com/album/263560031

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Veröffenticht 16.03.2023; aktualisiert 18.03.2023

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