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Leipzig: „Giselle“ im Wutraum

Leipzig: „Giselle“ im Wutraum

Chefchoreograf Mario Schröder setzt auch in der Abschiedsinszenierung sein ästhetisches crossover-Konzept an Adolph Adams romantischen Ballettklassiker fort

Wer als Zuschauer Ballett erleben will und dabei an ein Tanzstück mit Handlung denkt, vielleicht sogar Spitzentanz erwartet, Palucca-Schule, Uwe Scholz oder so – um vom großen, dem „Bolschoi“, gar nicht erst zu reden – liegt hier definitiv falsch. Mario Schröder ist dekonstruktiv unterwegs.

Von Moritz Jähnig

Schlussbild der „Giselle“-Choreografie in Leipzig – die Primanallerina hockt verloren auf dem Bühnenboden. Die sechs Sängerinnen des Vokalensembles „Sjaella“ schweben überhöht als Mahnerinnen über der Szene. Sjaella (oben), Yun Kyeong Lee, Xixi Wang (im Hintergrund rechts i.B.)

Der bereits schon oft philosophisch davon schwebend erlebte Choreograf vom Leipziger Augustusplatz nimmt Adolph Adams 1841 an der Pariser Oper uraufgeführter Romantik-Klassiker „Giselle“ nicht als Erzählstoff, sondern zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen. Sein Thema sind das Frau-Sein, Geschlechterungerechtigkeit, KI und ähnliche Fragen aus dem aktuellen Diskurs. Leider sind die dazu von oben herab vorgetragenen Texte akustisch überhaupt nicht zu verstehen.

Giselle ist die geisterhafte Tragödie eines schönen jungen Bauernmädchens, das sich in einen verkleideten Edelmann namens Albrecht verliebt. Als seine Identität von seinem Rivalen Hilarion aufgedeckt wird, verliert Giselle den Verstand und stirbt vor Liebeskummer. Nach ihrem vorzeitigen Tod beschützt Giselles Geist ihren Geliebten vor der Rache der Wilis, einer Gruppe böser weiblicher Geister.

Das Programmheft zitiert Schröders Kernsatz für seine künstlerischen Auseinandersetzung: „Wir alle sind Giselle“. Dem folgen wir gern. Das Märchen erzählt von einem mittellosen Mädchen und einem reichen Adligen. Aber diese Tragödie kann geschlechtsunabhängig jeden treffen. „Giselle“ steht für alle Menschen ohne gesellschaftliche Teilhabe. Ihre Gefühle werden mutwillig von einem oder einer anderen verraten und verletzt, die ihm durch bessere gesellschaftliche Ausgangsposition, sprich Titel und Geld, überlegenen sind. Der oder die Getäuschte verarbeitet den Verrat nicht und scheiden als Ausdruck der letzten persönlicher Freiheit aus dem Leben. Den oder die Verräterin plagen Schuldgefühle.

Geheimsvolle Atmosphäre durch raffinierte Lichtführung

Ein Wutraum als Angebot

Am Leipziger Opernhaus finden üblicherweise vor den Vorstellungen kurze Einführungen für das Publikum statt. Bei dieser Gelegenheit kündige die Dramaturin „einen Wutraum als Angebot“ an. Drei Stunden später konnte man erahnen, was damit gemeint war.

Mario Schröder erzählt die bekannte Geschichte aus feministischer Perspektive. Dafür verschränkt sein Konzept die Musik Adolph Adams mit Interventionen der Perkussionistin Xizi Wang. Sie wird auf einem fahrenden Klangkörper-Podest Teil des Bühnenbildes. Diese als Störung perfekt funktionierende Idee hätte das Anliegen ausreichend adressieren können.

Szene mit Soojeong Choi und Carl van Godtsenhoven, in Hintergrund Sjaella

Musikalischer Aufruhr

Nun kommt, um die Märchengeschichte vermeintlich zeitgemäßer zu erzählen, als zweites Mittel die szeneprägenden Auftritte des Leipziger Vokalensemble Sjaella dazu. Viola Blache, Franziska Eberhardt, Felicitas Erben, Helena Erben, Marie Fenske, Marie Charlotte Seidl musizieren nicht wie das Gewandhausorchester – unter der Leitung von Matthias Foremny tapfer eine dem 19. Jahrhundert verpflichtete Klangkultur behauptend und großen Jubel verdienend – aus dem Graben. Sjaella bewegt sich auf der Szene mit den Tänzern oder singt aus der „Ulbricht-Loge“ herab.

Tänzerinnen, Vokalisten von Sjaella und Perkussionistin gemeinsam auf der Szene

Das dritte dramaturgische Erzählmittel sind Texte (Felicitas Erben, Sjaella), die akustisch nicht zu verstehen sind. Die Kompositionen stammen von Laura Marconi, David Lang und Gianluca Catselli.

Szenisch variiert der Bühnenraum für die 14 Erzählblöcke von Ansichtskarten-großen Formaten bis zur vollen Tiefe und Höhe der Gesamtbühne. Wie immer arbeitet Paul Zoller (Bühne, Kostüm, Video) mit den Lichtsetzungen, für die neben ihm Mario Schröder selbst und Michael Röger verantwortlich zeichnen. Eindrucksvoll der durch Projektionen rafiniert gestaltete Auftritt der Wilis. Beifällig aufgenommen wurden auch die Bilder von der menschlichen Eitelkeit, die sich im permanenten Handyvideo ausdrückt.    

Szene mit Madoka Ishikawa

Den Zahn der Zeit treffen

Unterhaltungstheater-Elemente bietet die Schröder-Choreografie ebenfalls auf. In einem Tanzbild trägt die Gruppe T-Shirts mit leutenden Grossbuchstaben. Die Tänzer positionieren sich so, das ganz fix Worte und Sätze zu lesen sind. Übertitelung der besonderen Art. Das brachte Lachter im Publikum und das einzige Mal so etwas wie Zwischenapplaus.

Insgesamt finden die Bilder selten zu der für das Leipziger Ballett bekannten Intensität. Vor allem nach der Pause ist ein roter Faden nicht mehr erkennbar. Wir konstatieren für Mario Schröders letzte choreografische Neuschöpfung in Leipzig ist ein großes szenisches und musikalisches Durcheinander, das nicht produktiv wird.

Das Programmheft nennt als Grund für den damaligen Pariser Erfolg des Balletts „Giselle“: „..das Werk trifft genau den Zahn der Zeit“. In der Leipziger Choreografie von Mario Schröder liegt über allem ein Dauer(an)klageton. – Wenn man so will, trifft seine „Giselle“ damit wieder „den Zahn der Zeit“.

Annotation

„Giselle”. Ballett von Mario Schröder, Musik von Adolphe Adam, Laura Marconi, David Lang, Fjóla Evans, Gianluca Castelli. Choreografische Uraufführung, Leipziger Ballett

Musikalische Leitung Matthias Foremny, Choreografie Mario Schröder, Musik Sjaella, Bühne & Kostüm Paul Zoller, Dramaturgie Anna Diepold / Thilo Reinhardt, Giselle Yun Kyeong Lee, Leipziger Ballett, Gewandhausorchester, Vokalensemble Sjaella Viola Blache, Franziska Eberhardt, Felicitas Erben, Helena Erben, Marie Fenske, Marie Charlotte Seidl, Perkussionistin Xizi Wang

Premiere und besuchte Vorstellung 20.4.2024; veröffentlicht 21.4.2024; aktualisiert 22.4.2024

Credits:

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Foto: © Ida Zenna

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