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Leipzig: Kitsch braucht Mut und klare Kante

Leipzig: Kitsch braucht Mut und klare Kante

Die MuKo herzt ein Mauerblümchen: „Das Veilchen von Montmartre“.

Man muss von einer Wiederausgrabung sprechen, wenn die Musikalische Komödie Leipzig jetzt Kalmans 1930 in Wien uraufgeführte, in Deutschland heute kaum noch aufgeführte Operette „Das Veilchen von Monmartre“ herausbringt. Mit Robert Stolz hatte das Haus Dreilinden auf diesem Wege großen Erfolg. Wie funktioniert das jetzt mit Kalman?

Von Henner Kotte

Noch heute wirbt das Touristenbüro: „Montmartre, ein authentisches Dorf in Paris“. Der Hügel ist zweifelsohne legendär ob seiner Feste, Künstler und Cafés. Allda hausten einst auch Delacroix, der große Maler, Florimond Hervé, der Komponist, und Henri Murger, seines Zeichens ein Erzähler. Diese Boy-Group hat Ideale und Talent, kann aber die Miete nimmer zahlen. Eine Geschichte um die armen Buben, die realiter tatsächlich Kunstgeschichte schrieben, haben sich die Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald ausgedacht. Der österreichische Operettenmeister Emmerich Kálmán vertonte die herzallerliebste Mär im Jahre 1930. In manchen Ländern gehört „Das Veilchen von Montmartre“ zum steten Repertoire einschlägiger Bühnenhäuser, in Deutschland wird’s selten gegeben. Nun blüht’s in der MuKo, Ulrich Wiggers hat es in Szene gesetzt.

„Ganz Paris träumt von der Liebe, denn dort ist sie ja zu Haus“ – im Stile der gefühligen Dienstmädchenliteratur einer Hedwig Courths-Mahler, Ida Boy-Ed und Nataly Eschstruth leiden, freuen, fühlen wir mit mit den handelnden Personen und können’s nicht glauben: Die brotlosen Künstler rettet eine Maid mit ihrer letzten Habe. Der Gerichtsvollzieher zeigt Herz und lässt die Miete offen. Ein Nacktmodell heiratet einen Minister. Der Politiker vermittelt dem Maler im Louvre eine feste Stelle. Komponist und Dichter landen im Vaudeville-Theater Hit um Hit. Die arme Maid ist reiche Erbin und Komtesse. Das Mauerblümchen wird zur großen Blüte, und endlich findet der Jüngling sein Veilchen fürs Leben. Untermalt werden diese schicksalhaften Schicksalswege von wunderbar passender operettiger Musik. Die Reime herrlich! „Reizende Frau, im Wachen und Träumen, mit glühenden Reimen besing ich dein Bild!“ Wir lauschen gebannt den Melodien und Worten. „Süßeste Frau, in flammenden Bildern vermag ich zu schildern, was ganz mich erfüllt!“ Die unwahrscheinliche Geschichte hat unsere ganze Aufmerksamkeit. Aber wir wissen natürlich, realitätsnah ist das alles nicht.

Solche Geschichten kann man erzählen, dazu gehört Mut, diesen zeigt der Regisseur zu Beginn seiner Erzählung noch nicht. À la Henri Murgers „La Boheme“ sitzt die Künstlermischpoke wie im Verlies und räumt stets die Treppen nach vorn und nach hinten. Mittenmang mutieren die Stufen zur Showtreppe der grandes Varietés. Das Bühnenbild Leif-Erik Heines zeigt den Montmartre der Romantik, davor agieren Personen im Hippie-Kostüm. Des Malers Bilder jedoch sind so gegenwärtig wie auch der Euro. Der Vorstellungsbeginn kann sich nicht entscheiden, wie er die doofe Geschichte erzählen will: Im Hier und Heute? Im Gestern? Sozialkritisch oder sentimental? Wahrhaftig oder übertrieben? Kitsch muss ernst genommen werden, sonst geht der Kulturgenuss flöten! Doch das liebe Spiel kriegt sich ein, denn die „Narzissen küssen“ sich beim Blumenfest. Die Kostüme der Gesellschaft zieren jetzt Blüten, Wiesen und Geäst, der Minister trägt das Antlitz der Mona Lisa. Das hat Stil! Stichworte und Genderpein der Gegenwart werden zwanglos eingefügt und erweitern den Interpretationsrahmen der Trivialgeschichte erheblich. Ab da wohnt der Inszenierung jenes Quentchen Ironie bei, dass nicht nur schmunzeln, sondern feiern lässt.

Pendelt zunächst die Inszenierung nicht wissend wohin, wissen bei geöffnetem Vorhang alle, die auf der Bühne rummachen, um den präzisen Vortrag einer Kitschgeschichte und geben dieser, was sie braucht: Mit leicht übertrieben Verve schmettern die Jungs der Boy-Group Adam Sanchez (Delacroix), Justus Seeger (Murger) und Andreas Rainer (Hervé) ihre Lieder. Mit großen Gesten am Kitsch vorbei installiert Michael Raschle zunächst den Luden, dann einen Minister. Zickig wie Marika Rökk ist die Diva Franziska Zwink. Miriam Neururer leidet nachvollziehbar als Mauerblümchen, überrascht als Millionärin und sagt zur Liebe nicht gleich ja. Aus Krankheitsgründen sprach sie nur Text und Christina Maria Fercher übernahm als Sidekick die Gesangspartien – Grandios! Tobias Engeli verlustierte sich mit dem Orchester und vermied naheliegenden Schmalz. Die Damen und Herren vom Ballett (Choreografie: Kati Heidbrecht) zeigten sowohl Brust wie Bein und brillierten ohne Travestiegemähre im Geschlechtertausch. Bis hin in die kleinste Nebenrolle gaben die Darsteller Schmackes, der dem Publikum Theaterlust verleiht. Der Chor war ein engagiertes und mitleidendes Montmartrevölkchen (Einstudierung: Mathias Drechsler) und trug am Ende die dazu passende Kledasche.

Nach unentschiedenem Beginn ist das dann „Das Veilchen vom Montmartre“ herrlich erblüht und eine richtig gute Dienstmädchengeschichte geworden, die uns für zweieinhalb Stunden das Herz wärmt. Danach heißt’s raus aus dem Theatersaal in die Realitäten unseres Lebens und die volle Straßenbahn.

Annoation

„Das Veilichen von Monmartre“. Operette in 3 Akten von Emmerich Kalman, Libretto von Julius Brammer und Alfred Grünwald. Oper Leipzig, Musikalische Komödie.  

Musikalische Leitung Tobias Engeli / Friedrich Praetorius, Inszenierung Ulrich Wiggers, Choreografie Kati Heidebrecht, Bühne, Kostüm Leif-Erik Heine, Dramaturgie Nele Winter, Choreinstudierung Mathias Drechsler, Chor Chor der Musikalischen Komödie, Extrachor, Ballett der Musikalischen Komödie, Komparserie der Oper Leipzig, Orchester der Musikalischen Komödie

Besetzung: Ninon Franziska Zwink / Olena Tokar, Violetta Cavallini Mirjam Neururer, Lolette Sara Cornelia Brandão / Lolita Valau, Cochette Laura Dominijanni / Marta Borczakowska. Fleurette Jimena Banderas Martinez / Tatiana Andrea Duarte de Sousa, Angestellte bei Ninon Nicola Heinecker, Raoul Delacroix Adam Sanchez, Henry Murger Justus Seeger, Florimond Herve Andreas Rainer, Genral Pipo de Frascatti Michael Raschle, François Pisquatschec Milko Milev, Parigi Michael Raschle, Baron Jacob Rotschild Roland Otto, Theaterdirektor Radoslaw Rydlewski, Sekretär Leblanc Björn Grandt, Frapeau Stephen Budd / Mattia Cambiaghi, Just Eat Denys Popovych / Claudio Valentim

Premiere und besuchte Vorstellung 22.04.2022, veröffentlicht 24.4.2023, weitere Vorstellungen www.oper-leipzig.de

Credits

Text: Henner Kotte, freier Theaterkritiker und Autor, Leipzig

Fotos (2): © Kirsten Nijhof

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