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Nürnberg: Vom bürokratischen zum digitalen Kosmos

Nürnberg: Vom bürokratischen zum digitalen Kosmos

Kafkas „Process“ als Tanztheater mit Musik von Friederike Bernhardt

Am Leipziger Schauspiel kreierte die 1986 in Wittenberg geborene Komponistin Friederike Bernhardt Musik und Sounds zu Produktionen wie „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, „Penthisilea“, „Die Räuber“ und „Ein Wahnsinn“. Jetzt war ihre Musik für „Der Process“ nach Kafka mit dem SETanztheater in der Tafelhalle Nürnberg ein substanzieller Teil dieser Uraufführung.

Von Roland H. Dippel

Wer über den eigenen Spartenrand hinausdenkt und einen ‚Klassiker‘ mit Gegenwartsrelevanz sucht, kommt an Franz Kafka schwerlich vorbei. „Die Verwandlung“ am Theater Naumburg. „Der Prozess“ in der Vertonung von Philip Glass am Theater Hof und in der Vertonung Gottfried von Einems am Theater Regensburg sind nur einige jüngere Beispiele – nicht zu vergessen schon vor längerer Zeit Philip Glass‘ „In der Strafkolonie“ nach Kafka in der eindringlichen Lesart der Pocket Opera Nürnberg in Büroneubau-Hülle.

Jetzt kam auch Sebastian Eilers mit der an Schauspielhäusern von Berlin bis Wien aktiven Komponistin Friederike Bernhardt auf Kafka. Es gelang eine musikalisch wie tänzerisch hoch engagierte und sich den narrativen Tücken von Kafkas 1911 bis 1915 entstandenem Roman mit grundehrlicher Ambition aussetzende Uraufführung. Äußerst erfreulich war die Besinnung auf die physisch-energetischen Eigenkräfte des 18-köpfigen SETanztheaters. Das „c“ im Titel „Der Process“ statt „Prozess“ ist Ausdruck im Sinne des Konzepts. Den es geht im ersten Teil von Kafkas Roman nicht nur um den aus unbegründeten Motiven eingeleiteten Gerichtsprozess gegen Herrn K., sondern noch mehr um dessen seinen und den Lebenssinn der Lesenden radikal in Frage stellende Suche nach Ursache, Anlass und eigener Schuld. Für Herrn K. erfahren alle Existenzgründe tiefe und irreparable Erschütterungen. Sein soziales Netzwerk erodiert und alle Gewissheiten stürzen ein.

Bilder der Komplexität des Plots

Kein Video und damit keinerlei überflüssige Bildzeichen plagten die Zuschaueraugen in der an einem Samstagabend gut gefüllten Tafelhalle. Die Blicke konnten sich auf die in der ersten Hälfte packend aufgefächerten Komplexität des Plots und seiner Bebilderung aus Perspektive des digitalen Zeitalters konzentrieren. Ton, Text (Sprecher: Sebastian Grünewald) und Licht (Johannes Voltz) sind klar auf das Wesentliche des Theaters gerichtet, nämlich die Menschen in Aktion. Konsequent bis zum Programmblatt, was neben QR-Code fast nur Links zu Websites und Social Media enthält, ist diese Vergegenwärtigung des Romangeschehens mit kritischen Blicken auf digitale und mediale Potenzen.

Nebst einem ironischen Schwenk zu Kafkas „Verwandlung“ gab es einige aktuelle Zusätze: 4,5 Milliarden Menschen sind während dieses Tanzabends online, heißt es zwischen zwei Originalsätzen Kafkas. Trotz des Freiheitsideals der Zivilgesellschaften sitzt vor allem dort die Angst vor digitalem Bashing aufgrund vorsätzlicher oder unbewusster Normverstöße besonders tief.

Formen des Verbrechens

Zum Kapitalverbrechen des im Jahr 2023 natürlich genderfluiden Herrn Karl wird irgendein blöder, aber lässlicher Kommentar, welcher die digitale Shit-und Verteufelungslawine ins Rollen bringt – Widerstand, höhere Vernunft, sachliche Einsicht zwecklos! Und die KI schweigt, wie oft in solchen Fällen. Ein tolles Sujet also für Tanz und die nicht minder fluiden, sogar raffinierten Übergänge und Überblendungen zwischen dem physisch aktiven Streichoktett neben zugespielten Elektroklängen. Letztere bilden den Sound des digitalen Mainstreams, ballen sich zu akustischen Clouds aus Angst oder neutraler Besänftigung.

Prächtige Hörmanipulation

Die Komponistin Friederike Bernhardt weiß, wie sie Streicherklänge größer klingen macht als es die Personenzahl des Ensembles vermuten lässt (Musikalische Leitung: Sophia Schulz). Die mal harschen, mal samtweichen Bogenstriche setzen wie in einem guten Krimi eine Vielzahl von Stimmungsdimensionen frei. Das in die Choreografie eingebaute Orchester Ventuno betreibt prächtige Hörer-Manipulation mit kompetentem Dienst am Kafkaesken Sujet.

Wenn sich die Hauptfiguren aus dem SETanztheater auf der breiten Fläche verteilen, ist das wie ein Aufputzen aus erholsamen und in echt zu sehenden Kissenbergen zu natürlich nur vergnüglichen Aspekten des Selfie- und Share-Alltags. Karin Schneiders Kostüme zeigen, wie die Transformation in die Sportgesellschaft vollzogen ist, Übergänge zwischen Arbeit, Selbstoptimierung und Freizeit fließend sind. Grace Boysen, Orfeas Chatzispirou und Giorgia Grandi sind in den Solorollen nicht nur der Herr K. selbst, sondern auch Archetypen funktionalen Verhaltens.

Szenische Klarstellungen

Die Jagdszenen – offen bleibt, ob diese real sind oder Kopfgeburten des Herrn K. – ziehen schnell vorbei. In leicht verständlicher Choreographie reihen sich Erschlaffen und Ketten der Angst, aber auch Mustersituationen von Selbstrepräsentation und dem einhergehenden „Fishing for Likes“.

In der zweiten Hälfte verschiebt sich die bis dahin spannende Beziehung zwischen Tanz und Plot etwas, gewinnen die merkbar in Improvisationen entstandenen Kollektivfiguren gegenüber Kafkas differenziertem Stoff Dominanz.

Keine Deutungsversuche

Oder ist das zu deuten wie das Ermatten der schönen digitalen Uniformität gegenüber menschlichen Herausforderungen, die bei Kafka mit differenzierender Sprachgewalt Ausdruck finden und im humanoiden Digitalimperium keine Rolle mehr spielen? Darauf geben Sebastian Eilers, Trainingsleitung Birgit Eilers und Dramaturg Andreas Thamm keine Antwort. Letztlich ist es offenbar egal, ob man im alten bürokratischen oder im neuen digitalen Kosmos den Überblick und die Gewissheit verliert. Angesichts dieser Tanz-Dystopie klang der lange Applaus erstaunlich freudig.

Annotation

„Der Process“. Nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka. SETanztheater & Orchester Ventuno. Tafelhalle im KunstKulturQuartier. Musikkomposition: Friederike Bernhardt / Choreografie>: Sebastian Eilers / Ausstattung: Karin Schneider / Lichtdesign: Johannes Voltz / Grafik und Illustration: Pia Salzer. Mit: Giorgia Grandi, Grace Boysen, Orfeas Chatzispirou, Orcherster Ventuno, ARMADA des M.A.D.

Premiere 02.03.2023, besuchte Vorstellung: 04.03. 2023, veröffentlicht 06.03.2023, aktualisiert 10.03.2023, weitere Vorstellungen: Fr., 17.03., 20:00; Sa., 18.03., 20:00; So., 19.03., 18:00

Credits

Text: Roland H. Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München

Fotos: © Simeon Johnke

Szenenbilder

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