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Papas Lebensuhr tickt aus

Papas Lebensuhr tickt aus

Das Schauhaus präsentiert das Vergessen als Kunst.

„Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“ bleibt Wunsch, nur eine Polka von Johann Strauß (Sohn) und wird nicht Realität, meint

Henner Kotte

„Glücklich ist, wer vergisst“, ist tatsächlich nur eine Polka von Johann Strauß (Sohn). „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“ bleibt Wunsch und wird nicht Realität. „Ich bin ein Baum, der jeden Tag mehr Blätter verliert“, sagt der alte Mann und vergisst. Dabei ist Vergessen ist ein ganz natürlicher Vorgang. Wenn er jedoch zur Krankheit mutiert, nennt ihn die Wissenschaft senile Demenz. Der Volksmund sagt Altersschwachsinn dazu. Wird ein Mensch davon befallen, verliert er sich selbst. Kinder und Freunde erkennen ihn nicht mehr wieder. Je älter unsere Gesellschaft wird, desto mehr Alte fallen dieser Krankheit anheim. Ein veritables Problem nicht nur im Privaten.

Dem Franzosen Florian Zeller ist zum Thema ein beeindruckender (und zu recht preisgeehrter) Theatertext gelungen, der beweist, dass Dramatik ein eigenständiges Genre, das Publikum in seinen Bann zu schlagen vermag. Allzu oft vertrauen derzeit die Theaterbühnen nicht ihren ureigenen Mitteln, sondern servieren uns ohne Verve und in epischer Breite unspielbare Textkonvolute (wir nehmen hier das Leipziger Schauhaus nicht aus). Schlicht nennt Dramatiker Zeller sein Schauspiel „Vater“ und verweigert die Assoziationen zu Strindberg, Shakespeare und Thomas Vinterberg. Vater André ist einer aus der gewöhnlichen Masse, den die Demenz nun ereilt. Hanna, der Tochter, macht er seine Pflege zur Qual. Zum einen hält sie alle Vergleiche zur Schwester nicht stand, die aber ist auf Selbsterfahrungstrip und weit weg, zum anderen will Hanna ihrer großen Liebe nachziehen. Pierre ist Hannas Gatte und gegen ihre Verzweiflung machtlos. Laura, die Krankenschwester, kümmert sich um den Alten, der vermutet, dass sie ihm sein Chronometer geklaut hat. Aber sein Leben hängt für ihn ohnehin nicht mehr im zeitlichen Strang von Vergangenheit und Gegenwart.

Zellers Text verschiebt genial Vaters Erinnerungslücken, so dass die Figuren auch andere sind oder scheinen, dass Vater Fähigkeiten zuwachsen, die er selbst nie gekannt (Stepptanz zum Beispiel) oder dass sein Schrei nach der Mama das Ende oder Kinderangst sein kann. Und wir im Publikum wissen nicht, was nun ist denn wirklich passiert? Wir werden einfach in der Demenz des Vaters belassen und verlieren damit die objektive Sicht aufs Geschehen.

Szene mit Julia Zabolitzki

Regisseur Tilo Krügel setzt das Publikum in die Schauhaus-Diskothek und lässt es rundherum und obendrüber bespielen. Der Zuschauer sitzt quasi in des Vaters Gehirn. Von allen Seiten blitzen die Erinnerungsfetzen. Das Bühnenbild von Agathe MacQueen verzichtet auf Bombast und vertraut schlicht den Mauern des Hauses. Die Kostüme gleichen sich auf fatale Weise und machen so Vaters Dilemma auch deutlich. Vater André ist Bernd-Michael Baier und kann aus seinem Gefängnis nicht raus, er steht pausenlos auf der Bühne. Diesen Parforceritt meistert Baier mit nuancierter darstellerischer Bravour. Anna Keil und Julia Zabolitzki wechseln von Tochter zu Pflegerin und wissen prononciert Akzente zu setzen. Thomas Braungart fällt die Rolle des Realisten zu, die manch erlangte Einkehr und Ruhe zerstört. Im Kleinen zeigt sich die Berufsbeherrschung von Spielern und Regisseur. Beifall sehr verdient, und ein Plädoyer für alle die Pflegekräfte, die momentan in der Diskussion.

Ungeschönte Stücke über das Altern sind selten und noch seltener Kunst. Hier ist der Glücksfall inszeniert, der weder weinerlich noch anklagend die erbärmliche Situation zeigt und das mit Witz und purem Schrecken. Dem Team ist ein grandioser Theaterabend gelungen – man muss ihn sich nur ansehen wollen.

Credits

Foto: © Rolf Arnold/Schauspiel Leipzig

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