Home | Theater/Musik | Musik | Zürich: Finales Applaus-Fortissimo für dekorativen Biedersinn
Zürich: Finales Applaus-Fortissimo für dekorativen Biedersinn

Zürich: Finales Applaus-Fortissimo für dekorativen Biedersinn

Andreas Homokis „Carmen“ an der Oper Zürich

Von Bizets „Carmen“ geht eine magische Kraft aus, die das Interesse der Musikkritik weckt und sie auf Reisen schickt. Die im April 2023 an der Pariser Opéra Comique von Andreas Homoki inszenierte „Carmen“ ist jetzt auch am Opernhaus Zürich zu erleben.

Von Roland H. Dippel

Don Jose, Saimir Pirgu und Carmen, Marina Viotti

Die Opéra comique ist ein wichtiges Gen in der Kultur-DNA von Paris und ihre Chronik ein Spiegel seiner urbanen Epochen. Warum sich also herumquälen mit dem Kontrast zwischen dem impulsiven Brigadier und einer selbstbestimmten Andalusierin. Carmen machten Andreas Homoki und sein Ko-Regisseur Arturo Gama, der die Kollektive etwas pauschal, die Solisten choreographisch aber sehr versiert führte, in den ersten beiden Akten zu einer der Uraufführungssängerin Célestine Galli-Marié angenäherten Projektionsfigur, später zur Widerstandskämpferin während der Belagerung durch Nazi-Deutschland und bei der Stierkampf-Übertragung im Fernsehen zu einer selbstbestimmten Frau der Gegenwart, welcher Don José eher aus spontaner Aufwallung denn aus Vorsatz das Messer in den Bauch rammt.

Der Teufel steckt im Phantasie-Detail

Das Ganze beginnt bei Homoki in einem Foyer- und Backstage-Sittenbild der Belle Époque, in dem Herren mit Zylinder und Stock sich am Damenpersonal der Salle Favart zu schaffen machen und deren Reize jovial für sich vereinnahmen. Doch der Teufel steckt im von Flaubert bis Zola beschriebenen Phantasie-Detail: Wer führen will, wird auch devot. Dass Carmen den Leutnant Zuniga, ihren José und nur nicht den Torero Escamillo mit Unterwerfungsspielchen lockt, macht neben Carmens legeren Umgangsformen einen Großteil ihres Mega-Appeals aus.

Saimir Pirgu und Marina Viotti als José und Carmen in Stunden des Glücks

Dass sie im dritten Akt dann überdies zur Résistance-Widerstandskämpferin mit nüchterner Aggressivität und im Schlussakt zum Traumfrau-Groupie des Macho-Stars Escamillo ohne nennenswerte Eigenschaften wird, erleichtert der Zürcher Carmen Marina Viotti das Erklimmen der existenziellen Gipfel von Bizets genialer Klimax nicht. Viottis Carmen-Höhepunkte sind vor allem die Seguidilla und ein prachtvoll gesteigertes Chanson bohéme.

Ungewöhnliche Ansprüche an gesangliche Gestaltung

Es ist für Sänger:innen definitiv schwierig, Figuren in Inszenierungen mit kräftigen Zeitsprüngen nach Konzepten, denen das Dirigat mit Vehemenz folgt, schlüssig zu verkörpern. Viotti – und sicher nicht nur ihr – fällt der Sprung in das von Gianandrea Noseda mit spröder Starre exerzierte Schmuggler-Bild, ins hochdramatisch gesteigerte Kartenterzett und ins Duett-Finale mit hier gepanzerter Sinfonik schwer.

Klare Epochensetzung in der Ausstattung

Die Philharmonia Zürich folgt Nosedas Stil-Aufschnitt und durch die Inszenierung motivierten Genrebrüchen flexibel wie geschmeidig. Der von Janko Kastelic auf Leuchtkraft getrimmte Chor der Oper Zürich mit Kinderchor singt von den Soldaten über die Zigarettenarbeiterinnen und Schmuggler bis zur Corrida auch deshalb so farbig, weil er das Cherchez-la-femme des Beginns überaus deutlich ausspielen darf. Paul Zollers Bühnenhaus und Theatervorhänge sind realistisch wie zweckdienlich. Man versteht vor allem durch die klare Epochensetzung von Gideon Daveys Kostümen, dass es um Zeitsprünge geht.

Don José lässt erst bei der bitteren Erkenntnis des totalen Verlusts früherer Vertrautheit von seiner Liebe ab

Die stärkste Figur ist Natalia Tanasii als menschlich bezwingende und lyrisch intensive Micaëla, die sich mit einem Lächeln gegen Männer und mit einem gezielten Tritt zwischen die Beine des übergriffigen Morales (Aksel Daveyan mit Bariton wie sanfte Katerpfote) zu wehren weiß. Als Lazarettschwester scheint sie alles zu meistern, von José lässt sie erst zur bitteren Erkenntnis des totalen Verlusts früherer Vertrautheit ab.

Dabei fasziniert, dass sich diese Stärke auch in Natalia Tanasiis makellos geführtem Sopran zeigt.

Bemerkenswert gut besetzte Partien

Letztlich stiehlt sie damit sogar Saimir Pirgu, der wie in Prosper Mérimées Novelle von Anfang bis Ende im Fokus steht, die Schau – sogar wenn Pirgu die Blumenarie zum Exempel motivierter Piano-Lyrik macht und erst im letzten Bild so richtig laut wird, obwohl er schon viel früher zum krisengeschüttelten Nervenwrack wurde. Neben den bemerkenswert gut besetzten mittleren Partien bleibt Łukasz Golińskis Torero Escamillo etwas neutral.

Niamh O’Sullivan (Mercédès) und Uliana Alexyuk (Frasquita) zeigen zielsichere Stimmpower wie die Hauptpartien, die Hackordnung von Le Remendado (Spencer Lang) und Le Dancaïre (Jean-Luc Ballestra) wird fein ausgelotet. Das Schmuggler-Quintett und das Ensemble, wenn die Gehilfinnen zur erotischen Ablenkung der Zöllner ansetzen, gerieten also zu Höhepunkten. Stanislav Vorobyov als Leutnant Zuniga erlebte Carmens Colt an seiner Schläfe fast als Genussmoment.

Saimir Pirgu in der Partie des Don José am Züricher Opernhaus

Dekorativ bis bieder

Es fragt sich, ob das Zürcher Opernpublikum sich mit dem perfiden Esprit und dem sehr dekorativen Biedersinn dieser Pariser „Carmen“ so identifizieren kann wie das Publikum der Seine-Metropole. Vielleicht hätte man an der Limmat doch lieber ein Stück aus der eigenen Stadttheater-Geschichte – etwa „Polnische Hochzeit“ oder „Mathis der Maler“ – für die an einem Spitzenwerk aus hauseigener Anfertigung entlanggehangelte Chronik wählen können. Klar: Bizet ging in Rom gern ins Bordell, das inspirierte auch Homokis Inszenierung. Aber in Paris weiß man todsicher, dass seit Ende des Deutsch-Französischen Krieges auf der Bühne der Opéra-comique die Happy-Ends mit Hochzeit oder Paar-Versöhnung weniger, die Beziehungsdesillusionen wie in „Fantasio“ (1872), „Carmen“ (1875), „Hoffmanns Erzählungen“ (1881) und „Manon“ (1884) dagegen immer zahlreicher wurden.

Musikalischer Atmosphärenwandel

Vom genialen Ironiker Bizet und seiner musikalisch unerträglichen Leichtigkeit des Seins entfernte sich die Zürcher „Carmen“ ab der Pause. Noseda preschte stellenweise sogar in die Richtung eines kraftvoll dichten „Carmen“-Musikbildes, das fast so vormodern ist wie die ethnische Zugehörigkeit der legendären Titelfigur zu einem durch eurozentrische Schwarzmalerei entstellten Wandervolk. Das Zürcher Premierenpublikum goutierte die musikalischen Perspektivenwechsel mit subtilen Abstufungen und finalem Applaus-Fortissimo.

Annotation

„Carmen“, Opéra-Comique in vier Akten Georges Bizet, Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der Novelle «Carmen» von Prosper Mérimée. Opernhaus Zürich. Musikalische Leitung Gianandrea Noseda Inszenierung Andreas Homoki Co-Regie, Choreografie Arturo Gama Bühnenbild Paul Zoller Kostüme Gideon Davey Lichtgestaltung Franck Evin Choreinstudierung Janko Kastelic Dramaturgie Kathrin Brunner

Besetzung

Carmen: Marina Viotti, Micaëla: Natalia Tanasii, Mercédès: Niamh O’Sullivan, Frasquita: Uliana Alexyuk,Don José: Saimir Pirgu, Escamillo: Łukasz Goliński, Le Remendado: Spencer Lang, Le Dancaïre: Jean-Luc Ballestra, Moralès; Aksel Daveyan/Gregory Feldmann (12, 15 Jun), Zuniga: Stanislav Vorobyov, Philharmonia Zürich,  Chor und Kinderchor der Oper Zürich, SoprAlti der Oper Zürich, Statistenverein am Opernhaus Zürich

Premiere und besuchte Vorstellung 7.4.2024; veröffentlicht 8.4.2024

Credits

Text: Roland H. Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München

Foto (5): © Monika Rittershaus

Scroll To Top