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Zürich: Musiktheater in der Experimentalzone

Zürich: Musiktheater in der Experimentalzone

Roman Haubenstock-Ramatis „Amerika“ inszeniert von Sebastian Baumgarten

Der 100. Geburtstag von Franz Kafka in diesem Jahr evoziert eine Fülle von Publikationen über den Schriftsteller und Aufführungen seiner für die Bühne adaptierten Werke. Die Oper „Amerika“ von Roman Haubenstock-Ramati erlebte 1966 unter Bruno Maderna an der Deutschen Oper Berlin ihre Uraufführung. Damals noch umstritten, erlebte das Werk jetzt am Opernhaus Zürich eine umjubelte Neuinszenierung.

Von Roland H. Dippel

Szene Personalchef Georg Festl , Sprecher 1 Benjamin Mathis und Sprecher 2 Sebastian Zuber (v.l)

In Zürich ist der Tenor Paul Curievici dieser Wanderer zwischen den Sphären bis zum Großen Naturtheater von Oklahoma mit Märchen- und Cartoonfiguren inklusive Rübezahl und Froschkönig. Dass der mit Delikatesse singende Paul Curievici in Sebastian Baumgartens bildstarker Inszenierung dem Komponisten Roman Haubenstock-Ramati (1919 bis 1994) ähnelt, ist kein Zufall. Nur durch eine willkürliche Gefangennahme von den Sowjets entkam Haubenstock-Ramati dem Holocaust. Nach abenteuerlichen Fluchten und einem Palästina-Aufenthalt fand er in Österreich eine Heimat, wurde Lektor des Musikverlags Universal Edition und Kompositionslehrer. „Amerika“ ist das größte seiner drei Bühnenwerke neben der Anti-Oper „Comédie“ nach Beckett und „Unruhiges Wohnen“, einer Zusammenarbeit mit der jungen Elfriede Jelinek.

Grenzen sprengendes Musiktheater

Im Kafka-Jahr traf die Oper Zürich eine alle Energien des Hauses mobilisierende Entscheidung gegen Kafka-Opern des am 13. März verstorbenen Aribert Reimann („Das Schloss“), von Philip Glass („Der Prozess“, „In der Strafkolonie“) und andere. So gelang ein großartiges Event mit einem großen Wurf aus der radikalen Experimentalzone des 20. Jahrhunderts: „Amerika“ ist ein durch Aufwand an Elektronik, im Idealfall suggestive Bühnenmittel und analytische Phantasie herausforderndes Werk, das wie Stockhausens „Licht“ die Dimensionen des institutionellen Musiktheaters überschreitet.

Karl Rossmann wandert also in „Amerika“ durch ein mysteriöses und groteskes Wunderland, in dem man mit logischer Vernunft nicht weiterkommt. Die Atmosphären – sogar die beklemmenden – sind im „Amerika“ der Zürcher Oper üppig und dabei sehr gesättigt. Christina Schmitts Ausstattung bleibt im Licht Elfried Rollers zwar dunkel, wirkt aber nicht pessimistisch. Schwarzweiß-Ansichten amerikanischer Wohnhäuser, davor Neonröhren und knallbunte Dresses für das als Nobelstatisterie und in virtuosen Rap-Eskapaden aberwitzig tolle Tanzensemble schaffen Augenreize mit Reminiszenzen an das ganz späte 20. Jahrhundert, Takao Baba choreographierte mit brillantem Chic.

Paul Curievici in der Partie des Karl Roßmann

Passend glamourös frisst sich auch der Soloauftritt von Allison Cook als Sängerin Brunelda in das wohlige Dunkel. Zum bizarren Höhepunkt gerät ihre Badewannen-Nummer unter einem Bodywatch-Display mit dem bizepsstarken Delamarche (Georg Festl), bis Brunelda und ihre Gehirnströme ermatten. Dass Karl Rossmann in diesem phantastischen „Amerika“ eine mehr oder weniger aussichtslose Orientierungssuche betreibt, geht im Rausch der Szenen unter. Gegenwartsbezüge wie die Wahlkampfrede „I Love you“ ergeben sich mit Leichtigkeit. Noch stärkeren Eindruck machen die symbolhaften Spielorte wie das Hotel Occidental. Sebastian Baumgarten ist als Regisseur hier vor allem Vernetzer zwischen den szenisch-dekorativen Modulen und Haubenstock-Ramatis elektroakustischen Lockrufen.

Es reißt die Fülle der Bedeutsamkeit noch weiter auf, dass Übertitel die Schauplätze aus Max Brods Bühnenbearbeitung des Kafka-Textes benennen. Jeweils mehrere Partien verkörpern Robert Pomakov, Mojca Erdmann, Ruben Drole, Benjamin Mathis, Sebastian Zuber. Irène Friedli als Oberköchin verpasst Karl eine Stelle als Liftboy – da steht Baumgartens „Amerika“ auf einmal zwischen Thomas Manns „Felix Krull“ und Wes Andersons phantastischer Filmkomödie „Grand Budapest Hotel“.

Musikalisch perfekt gelungene Abstimmungen

Zu Haubenstock-Ramatis Musik entwickelt Baumgartens Bühnenvision eine fluoreszierende Relation. Von einem Parkett-Platz an der hinteren Hufeisen-Kurve klingen die Raumwanderungen und Echo-Dialoge elektronischer Klänge faszinierend. Es sind nur wenige Fortissimo-Attacken, überwiegend setzte Haubenstock-Ramati transparente wie glänzende Verbindungen. Die Übergänge zwischen physischer Präsenz der Philharmonia Zürich und Zuspielungen sind erst merkbar, wenn Sounddesign (Raphael Paciorek) und Klangregie (Oleg Surgutschow) Hörbares auf Wanderschaft durch den Raum schießen.

Szene aus „Amerika“

Die Abstimmung mit den Sängerstimmen gelingt perfekt und suggestiv. Dirigent Gabriel Feltz, der die immensen Anforderungen der aus graphischen Akkumulationen bestehenden Partitur zugibt, hat mit der Crew die Klanglichkeit unter Zugriff auf Älteres verjüngt und aktualisiert. Die Sprechchöre aus Aufnahmen für die „Amerika“-Produktion des Theaters Bielefeld 2004 erhielten ein neues Sounddesign.

Also kommen auch die hypertrophen Experimente und Manifestationen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts aus den Rebellen- in die Reifejahre. Sebastian Baumgarten und Christina Schmitt zeigen, dass Kafkas belletristische Amerika-Reise mit dem ‚echten‘ Amerika des frühen 20. und damit auch 21. Jahrhunderts nur wenig zu tun hat, dieses Amerika mehr ein Raum der Irritationen als der Sehnsüchte ist.

Allison Cook als Brunelda am Opernhaus Zürich

Mit sieghafter Bildkraft

Die Inszenierung perpetuiert aber den Traum vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten und setzt zugleich Fragezeichen durch Bizarres, Poetisches, Technisches, Hypothesen. Aufgrund der Musik kommt die Szene aus der Slow Motion nur selten heraus, was die träumerische Aura des Abends intensiviert. In diesem packenden Panorama wird Inhaltlichkeit durch die Kraft der Klänge und Bilder zweitrangig. Riesiger Jubel.

Annotation

“Amerika”, Oper in zwei Teilen von Roman Haubenstock-Ramati nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka, Libretto von Roman Haubenstock-Ramati. Opernhaus Zürich. Musikalische Leitung Gabriel Feltz, Inszenierung Sebastian Baumgarten, Ausstattung Christina Schmitt, Choreografie Takao Baba, Lichtgestaltung Elfried Roller, Video Robi Voigt, Klangregie Oleg Surgutschow, Sounddesign Raphael Paciorek, Dramaturgie Claus Spahn

Besetzung

Karl Roßmann: Paul Curievici, Heizer, Pollunder, Robinson, erster Landstreicher: Robert Pomakov, Der Oberkellner, Delamarche, zweiter Landstreicher, Der Personalchef des großen Naturtheaters: Georg Festl, Klara, Therese: Mojca Erdmann, Onkel Jakob, Der Oberportier, Der Direktor des großen Naturtheaters: Ruben Drole, Brunelda: Allison Cook, Die Oberköchin: Irène Friedli, Sprecher 1, Der Student, Erster Schreiber, Gerichtsagent: Benjamin Mathis, Sprecher 2, Zweiter Schreiber, Wahlkandidat: Sebastian Zuber, TänzerInnen: Solomon Quaynoo, Pouria Abbasi, Yvonne Barthel, Natalie Bury, Kemal Dempster, Theodor Diedenhofen, Steven Forster, Evelyn Angela Gugolz, Michaela Kvet, Elisa Pinos Serrano, Anna Virkkunen, Oriana Zeoli, Philharmonia Zürich

Premiere 3.3.2024, besuchte Vorstellung 6.4.2024, veröffentlicht 8.4.2024

Credits

Text: Roland H. Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München

Foto (5): © Herwig Prammer

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