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Leipzig: Eine ästhetische Wonne

Leipzig: Eine ästhetische Wonne

„Fusion“ – Balletturaufführung von Mario Schröder – Musik Harry Yeff und Gadi Zoller.

Am Schluss Standing Ovation und Jubel ohne Ende. Und doch macht dieser Schluss des Ballettabends „Fusion“ nicht froh. Sieht so die schöne neue Welt der Zukunft aus?

                                                                Von Moritz Jähnig

Mario Schröder, der Ballettdirektor des Leipziger Compagnie, ist bekannt für seine experimentellen Ansätze. Er kombiniert traditionelle Techniken mit zeitgenössischem Tanz und anderen Einflüssen, um neue Ausdrucksformen zu schaffen. Seine Inszenierungen zeichnen sich durch eine moderne Ästhetik und eine dynamische Bewegungssprache aus. Die Publikumsauslastung seiner Vorstellungen ist gut.

Als Beobachter erleben wir den Künstler immer wie auf der Suche. Auf seinem Weg hat er mit renommierten Musikern, Bühnen- und Kostümbildnern sowie Choreografen zusammengearbeitet. Jüngstes Beispiel: sein Beitrag zum Ballettabend „Marin/Schröder“ im November am Augustusplatz.

Auch mit elektronischer Musik hat der 52-jährige Mario Schröder Erfahrung. Für seine Choreografie „Fusion“ geht er mit seiner Tanzsprache noch umfassender in den Dialog mit synthetischen Ausdrucksformen. Seine mehr der Insider-Szene bekannten Gesprächspartner diesmal sind der performende Tonsetzer Harry Yeff, genannt Reeps 100, sowie der Experimentalmusiker Gadi Zoller.

Elektronisch basierte Musik

Harry Yeff wird in Wikipedia als „englischer Beatboxer, Webvideoproduzent, Komponist und Künstler für Musik und neue Medien“ bezeichnet. In Leipzig präsentiert er sich der 1989 Geborene als Meister der Stimme und beherrscht alles, was er stimmlich mit Hilfe von Elektronik und Software steuern kann. Mit seiner Kehle und unterstützender Maschinentechnik erzeugt er einen geheimnisvoll schwebenden und suggestiven Klang, der die Spannung 90 Minuten hält. Wer schon einmal den Ton eines Theremin gehört hat, fühlt sich erinnert.

Der etwa gleichaltrige Gadi Zoller hat ebenfalls auf vielen Feldern experimentell nach Erweiterungen des Klangspektrums gesucht. Im Leipziger Projekt streicht und zupft er eine klanglich verfremdete Violine. Beide Musiker agieren für das Publikum stets sichtbar auf der Bühne. Harry Yeff geht noch einen Schritt weiter. Er integriert sich in das Corps de Ballet. Es handelt sich um zwei junge Musiker mit ungewöhnlicher Bühnenpräsenz, die beide künstliche Intelligenz für ihre Kompositionen und ihr Spiel nutzen.

Fünf Akte – fünf Etappen

Das Generalthema des Abends ist künstliche Intelligenz, die als Werkzeug und Hilfsmittel im kreativ-künstlerischen Prozess dient. Es ist auch das Thema des Handlungsballetts „Fusion“, das in fünf Akten die Geschichte der Begegnung von Mensch, Natur und Maschine, also künstlicher Intelligenz, erzählt. Der erste Akt „Genesis“ ist enigmatisch.

Wenn sich die Bühne öffnet, dauert es eine Weile, bis das Publikum eine Vorstellung von dem Geschehen bekommt. Körper hängen und schweben horizontal. Die Körper sind mit Kabeln und leuchtenden Punkten verbunden oder auch nicht. Schimmert Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum“ durch? Optisch wirkt es am ehesten vielleicht wie ein jedem bekannter Effekt, bei dem an sonnigen Tagen auf dem Glaskörper des menschlichen Auges Fäden und Formen vorbei zu schwimmen scheinen.

Die KI platzt herein

Die Darstellung bleibt vage, bis einzelne Körper in hellen Trikots sich erheben. Einige bilden Gruppen, die wie unbemalte weiße Porzellanfiguren posieren. Das Urelement Wasser wird in einem Becken auf die Bühne geschoben. Das Wasser erweckt und belebt die Porzellanfiguren. Dann platzt etwas Fremdes herein, ein Körper ohne oben und unten. Er ist nicht farblos weiß, möglicherweise trägt er einen dunklen Harness. Dieses andere Wesen braucht Zeit, um seine Koordinaten zu finden. Ein Lernprozess zwischen Technik und Mensch wird gezeigt, bei dem die Technik vom Menschen lernt und der Mensch sich herausgefordert fühlt und sich der Technik anpasst.

Das Ergebnis der Verschmelzung sind insektenhafte, vielgliedrige Wesen aus dem Kosmos von Hieronymus Bosch. Mario Schröder hat ungewöhnliche Formen und Bewegungsfolgen für seine Tänzerinnen und Tänzer entwickelt, die den Zuschauer überwältigen. Es ist ein einzigartiges Ereignis!

Fesselnde Bilder aus Licht

Ein Höhepunkt des Theaterabends ist erreicht, wenn ein bühnenbreiter Streifen aus silbrig-transparentem Tuch langsam, vom Licht berührt nach unten schwebt und alles bedeckt. Viele Szenen sind von solch betörender Schönheit. Wie schon in „Marin/Schröder“ hat der Szenograf Paul Zoller den Bühnenraum geschaffen, der von Michael Röger sensibel beleuchtet wird.

Wir haben zu Beginn gesagt, dass „Fusion“ ein Handlungsballett sei, das von der Begegnung von Menschen und KI erzählt. Das Mainstreamthema ist heute in aller Munde ist. Wie die Begegnung ausgeht, darüber halten Tanz und Musik sich gegebüber jeder Interpretationen offen. Doch das Schlussbild scheint in effectu eine eindeutige Botschaft zu vermitteln: Alles versinkt in Ruhe. – Das macht nicht wirklich froh.

Annotation

„Fusion“. Ballett von Mario Schröder, Live Musik von Harry Yeff – Reeps100, Choreografische Uraufführung. Leipziger Ballett, Opernhaus.

Choreografie Mario Schröder, Co-Creative / Musik Harry Yeff – Reeps100; Bühne, Kostüm Paul Zoller; Dramaturgie Thilo Reinhardt; Licht Michael Röger; Leipziger Ballett; Survivor Yun Kyeong Lee / Vincenzo Timpa; Livemusik Harry Yeff – Reeps100, Gadi Sassoon

Besuchte Vorstellung Premiere 28.05.2023; veröffentlicht 29.05.2023

Weitere Termine: 02.06.2023, 19:30 Uhr; 07.06., 19:30 Uhr; 30.06., 19:30 Uhr; 08.07., 19:00 Uhr

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Fotos: © Ida Zenna

Szenenbilder

Rezension zum Ballettabend „Marin/Schröder“ auf „Kunst und Technik“ erschien am 14.11.2022

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