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Leipzig: Dreimal Weltsicht

Leipzig: Dreimal Weltsicht

„Marin / Schröder“ – Tanzstücke von Maguy Marin kombiniert mit Mario Schröders Uraufführung „Panta Rhei“ im Rahmen der euro-scene.

Die Leipziger euro-scene fand ihren Abschluss mit einer großen Inszenierung in der Oper. Bestehend aus zwei Tanzstücken der großen französischen Choreographin Maguy Marin, getanzt von Mitgliedern des Leipziger Balletts sowie der Uraufführung eines neuen Balletts von Chefchoreograph Mario Schröder. Damit ist erstmals das Leipziger Ballett mit einer eigenen Produktion im Programm des Europäischen Tanz- und Theaterfestivals vertreten.

Von Moritz Jähnig

Madoka Ishikawa (li) und Natasa Dudar in »Große Fuge«

Der Ballettabend ist zweigeteilt. Er beginnt mit zwei Choreographien von Marin aus den 80er Jahren. Sie sind, das darf man ohne Übertreibung sagen, Wegmarken in der europäische Tanzgeschichte. Das Bewegungsvokabular, mit dem Maguy Marin erzählt, die, bevor sie ihre eigene Company in Frankreich gründete, im Brüsseler „Ballet du XXe siècle“ tanzte, unterscheidet sich sehr stark vom Stil des Leipziger Balletts unter Mario Schröder. Einstudiert haben die Arbeiten hier drei ehemalige Tänzer aus Marins Truppe. In Leipzig ist Maguy Marin keine Unbekannte. Wir erinnern uns an 1999 und ihr bejubeltes Gastspiel mit dem Backett-Tanzstück „May B“.

Das erste Stück „Duo d’Eden“ zeigt zu plätschernden und wetter-grollenden Geräuschen exakt jenen Moment der Menschheitsgeschichte, in dem Adam und Eva das Paradis verlassen. Sie tun es zögerlich ängstlich. Eva wagt nicht den Fuß auf den Boden zu setzen. Sie klammert sich an Adam und tippt nur vorsichtig mit dem Fuß oder der Hand auf die Erde. Die beiden Tänzer tragen ein realistisch nackt wirkendes Ganzkörpertrikot und starre, plastische Gesichtsmasken. Es ist ein Kraft fordernder, artistischer Tanz. Er erzählt über den schweren Anfang von allem und die Frau, die mehr Last als Partnerin ist. So what.

Ein weiteres Vitrinenstück ist Maguy Marin „Große Fuge“ (von Ludwig van Beethoven, op. 133, bearbeitet von Felix Weingartner). Frauen in roten Kleidern ergeben sich in einem schwarzen, schmucklosen Bühnenraum tänzerisch bis zur Erschöpfung den Klängen der Musik. Sie finden zu Gruppen und Paaren, ohne dass ein Ziel erreicht würde. Der aufopferungsvolle Tanz der Frauen geht unendlich weiter. Diese beiden ersten Choreograhien waren eine Homage – die freilich das Folgende vorbereitete.

Nach der Pause folgt als Hohepunkt ein Statement Mario Schröders. Gegenüber der Altmeisterin und gegenüber dem internationalen Programm des Festivals spricht er: „Panta Rhei“. Wer noch die DDR-Popkultur erinnert oder zumindest seinen Heraklit gelesen hat, kennt die Bedeutung der zauberische Formel. Alles fließt, alles bewegt sich. Die populäre Einsicht hat eine gern vergessene dunkle Seite, nämlich das nichts bleibt.

Zeige sich die Bühne im ersten Teil konzeptionell karg, blüht jetzt ein phantasievoller Bilderkosmos auf (Paul Zoller). Der erste Gedanke geht hin zu Bauhaus und Schlemmers Triadischem Ballett, das vage zitiert wird. Die Ausstattung spielt mit vielen Elementen. Eine glänzende Sisyphos-Kugel. Ein dürrer, zittriger Pflanzenstängel. Ein über den Boden kriechender Fleck. Tücher als Schiffssilhouette gerafft. Leuchtende Stäbe schweben hin und her und zentral über allem ein Gestänge, das als Raumskulptur einen achtseitigen Körper aus Fünfecken bildet. Geniales Lichtdesign (Michael Röger) lässt unterschiedliche Stimmungen vielfarbig aufleuchten. In dieser irren, syrrealen Welt, die wohl als unsere kleine dumme Erde zu lesen ist, bewegt sich die rot gekleidete Compagny in adäquat phanasievoller Körpersprache. Schröder zitiert gar nicht selten die Formen von Marin aus den beiden vorangegangenen Stücken. Choreographisch ungeheuer einfallsreich, stellt sich uns seine Arbeite in Tradition. Die Menschen eilen umher, bauen sich Brücken aus Körpern, surfen aufeinander gepackt durch alle Sphären als enstiegen sie Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum“.

Die Musik liefern Johann Sebastian Bach (Kunst der Fuge) und der zeitgenössische, mit seiner Melodik aufwühlende Pascal Dusapin. Die französischen Musiktheaterkomponis war zu dieser Premiere selbst anwesend. Das Gewandhausorchester konnte unter Leitung von Matthias Foremny den ausdrucksvollen, drängenden Ton dieser (Neuton-)Musik aufnehmen und als gleichberechtiges künstlerisches Element dem Theatererlebnis beigeben.

Es gelang ein ästhetisch zitatenreicher, musikalisch künstlerisch und optisch eindrucksvoller neuer Ballettabend an der Oper Leipzig und ein sehr großartiger, das Konzept der neuen Festivalleitung bedienender Abschluss der 32. euro-scene.  

 

Annonation

„Marin / Schröder“. Ballettabend von Maguy Marin und Mario Schröder. Koproduktion des Leipziger Balletts/Oper Leipzig mit der euro-scene Leipzig.

Musikalische Leitung Matthias Foremny , Choreografie Maguy Marin / Mario Schröder, Kostüme Chantal Cloupet / Paul Zoller / Montserrat Casanova, Bühne (Uraufführung) Paul Zoller, Leipziger Ballett und Gewandhausorchester. Besetzung: Duo d’EdenItziar Ducajú / Marcelino Libao; Grosse FugeVivian Wang / Diana Sandu / Natasa Dudar / Madoka Ishikawa; Panta Rhei  (Uraufführung) – Evelina Andersson / Monica Barbotte / Leticia Calvete / Yokino Chiba / Martina Gellida Planes / Mana Matsumura / Kalina Petkova / Caetana Silva Dias / Ana Belén Villalaba / Francesco Barbuto / Andrea Carino / Marcos Vinicius da Silva / Marcelo Ferreira / Landon Harris / David Iglesias Gonzalez / Joao Ludwig / Facubdo Luqui / Pedro Luz / Youngchan Moon / Alessandro Repellini / Daniel Roces Gómez / Igor Silva / Vincenzo Timpa.   

Besuchte Vorstellung: Premiere 13.11.22; veröffentlicht 14.11.22; weitere Vorstellungen 16.11., 19.11., 11.12., 16.12.22  

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Fotos (4): © Ida Zenna

Kontakt

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Szenenbilder

Große Fuge

Panta Rhei

Duo d’Eden

Mario Schröder, Maguy Marin und die Administratrice der Compagnie Maguy Marin, Laure Delavier auf einer Probe (vlnr)
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