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Zürich: Gottgleich und genderfluid

Zürich: Gottgleich und genderfluid

Calixto Bieitos umjubelte Inszenierung der frühbarocken Oper «Eliogabalo» von Francesco Cavalli

Zum Abschluss des alten Jahres 2022 präsentierte die Oper Zürich eine Rarität der barocken Opernliteratur. Mit einer gelungenen Textbearbeitung und musikalischen Interpretation, verbunden mit einer schlüssigen Inszenierung gelingt es, das Publikum mit der immer noch aktuellen Thematik vom Sexualpartner maßlos konsumierenden und in Allmachtsphantasien schwelgenden tyrannischen Herrscher zu überzeugen und zu begeistern.

Von Matthias Wießner

„Eliogabalo“ wurde von Francesco Cavalli, ein in der Mitte des 17. Jahrhunderts sehr erfolgreicher venezianischer Opernkomponist, als Auftragswerk komponiert und sollte im Teatro Santi Giovanni e Paolo in Venedig zum Karneval 1668 zur Aufführung gelangen. Das Stück wurde jedoch kurz vor der Premiere von den damaligen Besitzern des Theaters vom Spielplan gestrichen, überdauerte als Manuskript die Jahrhunderte und kam erst 1999 in der lombardischen Stadt Crema zur Uraufführung. 

Barock kompliziert verwobenes Geschehen

Die Oper über den römischen Kaiser Marcus Aurel(l)ius Antoninus spielt um das Jahr 222. Dieser wurde im jugendlichen Alter von 14 Jahren Kaiser von Rom, war bis zu seiner Ermordung vier Jahre später für seine zügellosen Eskapaden bekannt und wird als einer der grausamsten römischen Herrscher überhaupt geschildert. Der exzentrische, genderfluide und größenwahnsinnige, keine Grenzen akzeptierende junge Kaiser wollte nicht weniger strahlen als der von ihm verehrte syrische Sonnengott „Elagabal“.

Getrieben von starkem sexuellem Verlangen und seinen Allmachtsphantasien lebt er ausschließlich für sein Vergnügen, ohne sich um tradierte Normen, die Gefühle seiner Untertanen und Opfer oder Folgen seines Handelns zu kümmern. Bei der permanenten Suche nach neuen Opfern zur Befriedigung seines sexuellen Triebes helfen ihm seine Diener Zotico, Nerbulone und die Amme Lenia.

Die vornehme Römerin Eritea hat Eliogabalo zu Beginn der Oper bereits vergewaltigt und anschließend mit einem Eheversprechen besänftigt, das er aber keineswegs zu halten gedenkt. Ihren Verlobten Prätorianerpräfekten Giuliano trifft diese Schändung heftig und er sinnt auf Rache.

Abgesehen hat es Eliogabalo kurz darauf auf Gemmira, die Geliebte seines Cousins Alessandro, der als sein designierter Nachfolger gilt und ihm loyal ergeben ist.

Um leichter an die Frauen zu kommen, lässt Eliogabal die schönsten Frauen zu einem Senat einberufen und dort mit Ehrungen überhäufen. Weitere Verwicklungen entstehen dadurch, dass die junge Römerin Atilia (Macrina) wiederum in Alessandro verliebt ist und immer wieder versucht, diesen für sich zu gewinnen.

Langatmigkeit kommt nicht auf

Der jugendliche von Sexgier getriebene Kaiser steht mit seinen Ausschweifungen und seinem Machtmissbrauch im Mittelpunkt der Inszenierung von Calixto Bieito. Diese macht über den Text des Librettos hinausgehend deutlich, dass Eliogabal beiden Geschlechtern zugetan war und z.B. mit dem Tragen von Frauenkleidern gezielt die Gendergrenzen überschritt. Calixto Bieito schuf zusammen mit der Bühnenbildnerin Anna-Sofia Kirsch wirkungsvolle Bilder. Moderne, in den drei Akten wechselnde Bühnenbilder, eine gelungene Personenführung und gute Regieeinfälle bewahren den Zuschauer davor, die endlosen Bekundungen der Liebe, des Liebeskummers und der Rache als langatmig zu empfinden. Die Videos von Adrià Bieito Cami tragen viel zum Gelingen der Aufführung bei, indem sie die Stimmung oder Aussage der einzelnen Szenen gekonnt verstärken.

Die von Ingo Krügler entworfenen modernen, weitgehend zeitlosen Kostüme, fallen zur voyeuristischen Zurschaustellung nackter Haut und als Zeichen der cäsarischen sexuellen Ausschweifungen des Öfteren.

Dmitry Sinkovsky und Ensemble „La Scintilla“

Von der Oper ist nur der Generalbass und keine komplette Partitur überliefert. Die Instrumentation richtete sich historisch nach den finanziellen Möglichkeiten des aufführenden Theaters und muss heute bei einer Aufführung sozusagen neu erfunden werden. Für die Zürcher Aufführung wurde diese Aufgabe dem in der Barockmusik auch als Geiger und Sänger bewanderten russischen Dirigenten Dmitry Sinkovsky übertragen. Er kürzte die oft redundanten Rezitative zu einer schlüssigen, die Handlung voranbringenden, farbig und opulent instrumentierten Fassung.

Sinkovsky leitet das speziell für die Pflege des barocken Repertoires an der Oper Zürich gegründete Ensemble „La Scintilla“ kraftvoll, arbeitet feine Nuancen gut aus. Das Orchester transportiert die Spielfreude und lässt Cavallis Musik leuchten.  Sie ist abwechslungs- und spannungsreich, schillert vor Affekten und transportiert die Dialoge und somit die Handlung intensiv über die drei Stunden. Mit fleißigem Lesen der Übertitel kann man den verworrenen Ränkespielen einigermaßen gut folgen. Letztlich dient die Handlung in der barocken Oper auch weitgehend nur dazu, die handelnden Personen in bestimmte Gemütszustände und Emotionen zu versetzen, um diese durch schönen Gesang dem Publikum gegenüber glaubwürdig auszudrücken.

Eindruckvolle Gesangsleistungen

Eliogabalo, blendend besetzt mit dem ukrainischen Countertenor Yuriy Mynenko, erzwingt als einerseits willensschwaches, seiner Sexgier ausgeliefertes und gleichzeitig rücksichtsloses und brutales Lustwesen mit mal wild-schmachtender, mal süsslich-säuselnder oder wild aufbrausender Stimme Reaktionen und die Positionierung der anderen Personen im Spiel.  Dies vor allem bei Giuliano angesichts der Vergewaltigung seiner Verlobten gleich zu Beginn der Oper. Diese Hosenrolle gibt, wunderbar gesungen und energisch gespielt, die schottischen Mezzosopranistin Beth Taylor. Mit ihrem vollen, durchdringenden Mezzosopran voller Eleganz und Verve, dem warmen und umschmeichelnden Timbre und sicher gesetzten Expressivi hinterließ sie einen starken Eindruck.

Die Rolle des von Eliogabalo adoptierten Cousins und späteren Kaisers Alessandro Cesare wird vom australischen Countertenor David Hanson mit fein timbrierter Stimme, die stellenweise aggressiv und schrill und andererseits besänftigend und versöhnlich wirken kann, gegeben. Hanson spielt Allessandro einerseits stürmisch, selbstsicher, kraftvoll und andererseits zurückhaltend vorsichtig und verletzlich. Durch sein Verhalten und seine Treue zu seiner Geliebten wird dieser als Gegenbild zum Kaiser gezeichnet.

Vortrefflich und mit viel spielerischem Witz verkörpert den genderfluiden Aspekt der Tenor Mark Milhofer als alte intrigante und durchtriebene Amme Lenia. Der Tenor Joel Williams überzeugt als Liebhaber Zotico. Anna El-Khashem als Flavia Gemmira und Siobhan Stagg als Anicia Eritea, zeigten durch ihre starke Verkörperung der zwei vom Kaiser missbrauchten Frauen deutlich, was das rücksichtlose Verhalten Eliogabalos auslöst und bewirkt.  Diese beiden Sängerinnen und Sophie Junker als die um die Liebe Allesandros buhlende Atilia Macrina, komplettierten das hochwertige Ensemble mit ihren sängerischen und schauspielerischen Leistungen.

Die Inszenierung gibt generell allen Figuren durch gute Personenführung die Möglichkeit starke Charaktere zu entwickeln.

Aufgrund seines rücksichtlosen Verhaltens, der Verletzung gültiger Normen, denen auch ein Herrscher unterliegt, und der Herabsetzung der traditionellen römischen Götter, macht sich Eliogabalo eine Reihe von Feinden, die ihn letztlich töten lassen. Und so stirbt er zum Schluss nach selbst ausgeführter Entmannung auf der Zürcher Bühne beschimpft, verletzt und geschändet in Frauenkleidern in einem Käfig.

Annotation

„Eliogabalo“ Dramma per musica in drei Akten von Francesco Cavalli (1602–1676); Libretto von Aurelio Aureli, Oper Zürich. Musikalische Leitung: Dmitry Sinkovsky, Inszenierung: Calixto Bieito Bühnenbild: Anna-Sofia Kirsch, Calixto Bieito; Kostüme: Ingo Krügler; Lichtgestaltung: Franck Evin; Video: Adria Bieito Camì; Dramaturgie: Beate Breidenbach

Besetzung: Eliogabalo: Yuriy Mynenko, Anicia Eritea: Siobhan Stagg, Giuliano Gordio: Beth Taylor, Flavia Gemmira: Anna El-Khashem, Alessandro Cesare: David Hansen, Atilia Macrina: Sophie Junker, Zotico: Joel Williams, Lenia: Mark Milhofer, Nerbulone: Daniel Giulianini, Tiferne: Benjamin Molonfalean, Un console: Aksel Daveyan, Altro console: Saveliy Andreev; Orchestra La Scintilla; Statistenverein am Opernhaus Zürich

Premiere 04.12.2022; besuchte Vorstellung 30.12.2022, veröffentlicht 01.01.2023

Weitere Vorstellungen: 04./08./13.01.2023

Credits

Text: Matthias Wießner, Leipzig

Fotos (6): © Monika Rittershaus

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