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Anti-Märchen zum Fontane-Jahr
DEUTSCHE OPER BERLIN OCEANE von Detlef Glanert Musikalische Leitung: Donald Runnicles Inszenierung: Robert Carson Bühne: Luis Carvalho Kostüme: Petra Reinhardt Licht: Peter van Praet Video: Robert Pflanz Darsteller: Maria Bengtson, Nikolai Schukoff, Christoph Pohl, Nicole Haslett, Albert Pesendorfer, Doris Soffel, Stephen Bronk Foto: © Bernd Uhlig

Anti-Märchen zum Fontane-Jahr

Die Uraufführung von Detlef Glanerts “Oceane” an der Deutschen Oper Berlin.

Detlef Glanert (geb. 1960) krempelt die Gattung Oper nicht um und er provoziert nicht. Der Schüler von Hans Werner Henze ist heute einer der wichtigsten deutschen Bühnenkomponisten. Die Oper Halle brachte die Uraufführung seiner Oper „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ nach Grabbe und „Die drei Rätsel“ heraus. Glanerts „Weites Land – Musik mit Brahms“ erklang 2018 mit dem Gewandhausorchester, sein „Theatrum bestiarum“ in einem Orchesterkonzert der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“. Jetzt verfasste Hans-Ulrich Treichel für Glanert frei nach dem Novellen-Fragment „Oceane von Parceval“ von Theodor Fontane (1819-1898) den Text für ein Auftragswerk der Deutschen Oper Berlin. Die Premiere der am 28. April lautstark bejubelten Uraufführung ist einer der wichtigen Beiträge zum 200. Geburtstag Fontanes in der Stadt mit der, wie DOB-Intendant Dietmar Schwarz mit berechtigtem Stolz feststellt, „weltweit höchsten Uraufführungsdichte neuer Opern“.

von Roland H Dippel

Traditionsstück par excellence

Vor hundert Jahren hätten Verlage und Rundfunk eine Szene aus Detlef Glanerts neuer Oper sofort mit allen erdenklichen Arrangements unters Volk gebracht: An der deutschen Küste beginnt vor dem maroden Hotel Madame Luises beim Sommerfest der Tanz. Eine kleine Kapelle lockt zu Polka, Walzer, Galopp. Doch gleich kommt es zum Eklat: Die fremdartige Oceane von Parceval verliert sich in einer rätselhaften Absence und skandalisiert durch laszive Bewegungen. Die feine Gesellschaft ist überfordert von der Körperlichkeit dieser Frau mit dem großen Vermögen.

In seinem Prosa-Fragment holt Fontane den Urstoff der sich nach Vereinigung mit einem Menschen verzehrenden Nixe, ein Lieblingssujet des 19. Jahrhunderts von Fouqué bis Dvo?ák, heraus aus der märchenhaften Verbrämung in eine eher realistische Betrachtung. Fontane kehrte das Sujet um: „Sie hat Liebe, aber keine Trauer, der Schmerz ist ihr fremd alles was geschieht wird ihr zum Bild und die Sehnsucht nach einer tieferen Herzens=Theilnahme mit den Schicksalen der Menschen, wird ihr selber zum Schicksal. (sic)“ Psycho-Diagnostik aus dem Umfeld Freuds! Fontane-Kenner vermuten Analogien zwischen der Figur Oceane und dessen 1917 unter fragwürdigen Umständen gestorbenen Tochter Martha. Kommt diese Oper also um viele Jahrzehnte zu spät?

Bewährte Mittel, aktuelle Diagnostik

Treichel hat das Fragment zur Handlung weitergedacht: Der junge sympathische Großbürger Martin von Dirkson verliebt sich in Oceane und wird deshalb von den Hotelgästen ebenso stigmatisiert wie schließlich auch von seinem Begleiter Dr. Albert Feigentreu, von dessen leicht vulgärer Geliebter Kristina und vom mit scharfen Reden gegen alles Unvertraute losdonnernden Pastor Baltzer (groß und gefährlich: Albert Pesendorfer). Diese kernige Charakterzeichnung stellt gegenüber der meist feinen, dezenten Psychologie von Fontanes Figuren eine Vergröberung dar. Aber bühnenwirksam gedacht ist das auf alle Fälle, weil Oceane als dramatisches und musikalisches Zentrum inthronisiert wird wie Salome, die „Frau ohne Schatten“ oder eine Donizetti-Heroine.

Pinguine und Krähen am Grauen Meer

Auftragsempfänger der Deutschen Oper Berlin sollen gekonnt mit Chor und Orchester umgehen. Das beherrscht Glanert, dessen Opus mit einer Vokalise Oceanes aus dem Off beginnt. Diese weitet sich mit anderen Stimmen und instrumentaler Fülle zum flutenden Strom, der am Ende des zweiten der beiden symmetrisch entwickelten Akte nach Oceanes Entschwinden mit den gleichen Klangmitteln verebben wird. Diese Oper ist auch für mittelgroße Häuser gut machbar und wird in kleinerer Besetzung kaum an Wirkung einbüßen.

Wer mag, entdeckt in Glanerts Oper leicht Parallelen von mindestens einem Dutzend Titeln wie „Eugen Onegin“ oder Barbers „Vanessa“. Gerade das verdeutlichen Regisseur Robert Carsen und sein Produktionsteam, die das Vertraute aufgreifen und mit opulenten Mitteln in fragile Distanz setzen. GMD Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper Berlin meistern die exorbitant schwierige Partitur dank des Großeinsatzes von Assistent Stephan Zillas hervorragend, der Chor stürzt sich bestens gewappnet von Jeremy Bines und mit Lust in die umfangreichen Aufgaben. Das ist fast so wie Fellinis „E la nave va“, von der Choreografin Lorena Randi in ornamentale Bewegungsstrukturen transformiert. Bei Oceanes Tanz denkt man unwillkürlich an Anita Ekberg im mondbeschienenen Trevi-Brunnen. Für die Menschenmassen in den stilistisch formvollendeten Fin-de-Siècle-Kostümen Dorothea Katzers gibt es nur zwei Aktionsmuster: Eitle Pinguine oder angriffslustige Krähen.

In diesem „Sommerstück“ zeigt der Himmel keine Sonne, dafür aber alle Schatten von Grau über dem von Luis F. Carvalho pittoresk mit sanftem Wellengang oder machtvoller Sturmflut gestalteten Meer. Robert Carsen entwickelt unsichtbare Mauern zwischen den Gruppen und den Einzelnen. Das Spiel der Solisten entspricht genau Glanerts Klangsemantik für drei Paraderollen. Nikolai Schukoff darf als Martin von Dirksen tenoraler Strahlemann sein. Er ist mit weißem Anzug die zutrauliche Taube. Aber seine und Oceanes Spitzentöne erklingen nie gleichzeitig, sondern nur nacheinander. Musikalisch kann es nicht deutlicher werden, dass da zwei aneinander vorbei agieren und nie zusammenkommen. Christoph Pohl als Edda-Forscher und Nicole Haslett als sich mit vegetativer Geschmeidigkeit an ihn kettende Kristina sind das aus einer lyrischen Komödie zu Fontane verirrte Buffo-Paar. Sie setzen Pragmatismus gegen die unmögliche Nähe Oceanes zu Martin.

Verklingende Psychostudie

Neben Schukoff gibt Maria Bengtsson die unnahbare Silbertaube mit blond wallendem Loreley-Haar, die sich nicht hingeben kann und das vielleicht gar nicht will. Die Videos von Robert Pflanz, in denen sich eine multiplizierende Spaltung der durch Bengtsson weitaus mehr brodelnd als einfrierend gesungenen Oceane vollzieht, weisen auf des Rätsels Ursache: Diese Frau hat eine Persönlichkeitsstörung. Damit wird auch deutlich, wie aktuell Glanerts nur bei oberflächlichem Hören anachronistische Partitur ist. Mit durchaus spätromantischen Mitteln umkreist er die modern anmutende Figur Fontanes aus Perspektive der Gegenwart. Die Musik ist sinnlich, sogar melodramatisch. Sie bestätigt einmal mehr Glanerts Begabung für komponierte Konversationen und melodiöse Ensembles. Aber es geht um emotionale Defizite und Barrieren der Interaktion. Deshalb ist Glanerts, Treichels und Fontanes Oceane eher die Schwester von Strauss‘ berührungs- und menschenscheuer Daphne als eine der mit jeder Gefühlsfaser zur Vereinigung drängenden Undinen, kleinen Seejungfrauen und Rusalky. Heiß wie unter Asche verborgene Lava glüht aber die im Bankrott strandende Hotelbesitzerin Luise mit sich selbst täuschender Paris-Sehnsucht: Im Vollbesitz vokaler und szenischer Ausdrucksmittel beweist die großartige Doris Soffel an der Spitze des rundum sehr gut besetzten Ensembles, wie eine Partitur Glanerts durch intelligent mitschwingende Darsteller noch packender wird. – Oceane geht. Aber sie hinterlässt einen Brief, aus dem Martin ihre Stimme atmet. Also verklingt und verschwingt diese Oper so, wie sie begonnen hat. Nach Mutmaßungen über „Oceane“ stürzen enthusiastische Applaus-Kaskaden über alle Beteiligten.

 

Annotation:

Besuchte Vorstellung: So 28.04.2019, 18:00 Uhr, Deutsche Oper Berlin: Oceane. Ein Sommerstück für Musik in zwei Akten von Detlef Glanert. Libretto von Hans-Ulrich Treichel frei nach „Oceane von Parceval“ von Theodor Fontane – Weitere Vorstellungen am 3., 15., 17., 24. Mai 2019, immer 19:30 – www.deutscheoperberlin.de – veröffentlicht: 29.04.2019

 

Was noch:

Nächste Berliner Opernuraufführung: So 05.05.2019, 19:00 Uhr, Komische Oper: M – Eine Stadt sucht einen Mörder. Oper in einem Akt von Moritz Eggert nach dem Kriminalfilm von Fritz Lang (1931)

 

Creedits:

Fotos: © Bernd Uhlig

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