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Nils Müller begegnet dem OPTIMIERTEN MENSCHEN

Nils Müller begegnet dem OPTIMIERTEN MENSCHEN

I.

Seit die Menschen die Erde bewohnen, suchen sie – ihren Bedürfnissen entsprechend, mehr oder minder gut mit Verfahren bekannt und mit Gerätschaften ausgerüstet – die Natur zu nutzen und zu verändern. Die Natur beherrschen kann der Mensch aber nur, wenn er in ihre Geheimnisse eindringt, sich zunehmend sicherer in Raum und Zeit orientiert, die Natur erkennt.

Das Sammeln von Früchten und Wurzeln, der erfolgreiche Anbau von Pflanzen, das Jagen, Fangen und Züchten von Tieren, all das ist abhängig von Kenntnissen über die regelmäßig wiederkehrenden Zeiten des Regens, der Fortpflanzung und des Wachstums der Tiere und Pflanzen. Der Zusammenhang dieser Naturprozesse mit der Stellung der Sonne, mit den Jahreszeiten, blieb nicht verborgen. Lange Zeit herrschte die naive Vorstellung, dass die Erfolge und Missgeschicke der Menschen, Horden, Stämme und Völker vom Standort, von der Bewegung der Sterne beeinflusst werden. Der Blick zum gestirnten Himmel, das sorgfältige Beobachten seiner Erscheinungen entsprangen nicht nur unbezähmbarer Neugier, sie hatten unmittelbar lebenspraktische Bedeutung.

Welchen Problemen der Natur, des eigenen oder gesellschaftlichen Lebens sich der Mensch auch zuwandte, er drang tiefer in sie ein. Daraus folgten Fragen über Fragen, die sich auf die Welt als Ganzes, auf die Stellung des Menschen in ihr, auf sein Verhältnis zur Natur und Gesellschaft bezogen.

Dampfmaschine.

Spinnmaschine.

Webmaschine.

Gustav Harkorts Blick sticht. Gustav Harkorts Blick bleibt dir in der Kunstausstellung immer in Gedanken, wie er da von seinem Marmorsockel aus seinen Marmoraugen in den Raum schaut.

Lokomotive.

Eisenbahn.

Klassenkampf.

Zwei junge Grubenarbeiterinnen vor Beginn der Schicht. Die Arbeitskleidung ist weiß. Vor dem Staub der Kohle sind alle Menschen gleich.

Elend in den Arbeitersiedlungen.

Knappe Löhne.

Ausbeutung.

Ein Wartesaal voller Auswanderer. Auf Lumpen liegt eine kranke Mutter. Sie hält ihr Kind im Arm.

Die Hoffnung auf ein gutes Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist ihr abhandengekommen. Was soll es schon bringen noch zu essen. Ob es das Kind einmal besser haben wird?

Die Auswanderer – die Geflüchteten – in diesem Raum suchen einen Halt. Einer beim anderen, alle im neuen Land. Ein Bild das aktueller nicht sein könnte, in unserer Zeit, in unserer Stadt, in unserem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

II.

Die Lebensweise unzähliger Kulturmenschen weist heutzutage eine Fülle von antihygienischen Momenten auf, die es ohne weiteres begreifen lassen, dass die Nervosität in fataler Weise um sich greift, denn diese schädlichen Momente wirken zunächst und zumeist aufs Gehirn.In den politischen und sozialen, speziell den merkantilen, industriellen, agrarischen Verhältnissen der Kulturnationen haben sich eben im Laufe der letzten Jahrzehnte Änderungen vollzogen, die Beruf, bürgerliche Stellung, Besitz gewaltig umgeändert haben, und zwar auf Kosten des Nervensystems, das gesteigerten sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen durch vermehrte Verausgabung an Spannkraft bei vielfach ungenügender Erholung gerecht werden muss.

Hinterhöfe.

Dachkammern.

Kartoffelschalen.

Das Bild des gierigen Unternehmers und die Bronze des ausgepressten Proleten daneben sprechen ihre Sprache von den Missständen dieser Zeit.

Die herrschende Klasse war immer und überall bestrebt, ihr Eigentum an den Produktionsmitteln zu sichern. Jede Ausbeuterklasse tat alles, um die bestehenden Verhältnisse, gestützt auf einen Machtapparat und mit Hilfe von Gesetzen und Verfassungen, zu festigen.

Auf diese Weise versuchte sie ihre Ordnung zu rechtfertigen, sie als etwas Selbstverständliches und Notwendiges hinzustellen.

Wo Licht ist, ist auch Schatten.

Die glatte und saubere Ansicht eines Viertels der Stadt macht dich misstrauisch.

Du denkst bei dir, dass die Menschen damals ihren Sozialismus nur geträumt haben können. Die haben noch vom Mondflug geträumt, denkst du und siehst das Jahr, in dem das Bild gemalt wurde: 1969. Tagtraum damals: Forschungsstation wie sie nach einigen Zukunftsprojekten der Raumfahrt aussehen könnte.

Aus Sicherheitsgründen wird man die wichtigsten Einrichtungen der Station (Aufenthaltsräume, Laboratorien, Klima- und Energieanlage) unter die Mondoberfläche verlegen.Auf der Mondoberfläche werden nur Luftschleusen, Beobachtungs- und Kontrollräume, Sonnenenergiesammler, Funkantennen, Start- und Landeplatz für Raketen errichtet werden.

Wieder in der Ausstellung.

Du fragst die Kuratorin, warum das Bild im Bereich der Elektrifizierung hängt.

Sie erklärt, dass es, da es den Karl-Heine-Kanal in Plagwitz – dem Industrieviertel der Stadt – darstellt und man bei der Hängung den Effekt einer Ahnengalerie der großen Industriellen vermeiden wollte. Daher gibt es hier einen Querverweis zu Karl Heine.

Du bist begeistert.

Das Weiß einer Ecke mahnt in der Überleitung zur Automatisierung. Auch in Leipzig gab es einen Teil dieser riesigen Maschine, die zwei Produkte herstellte: die Vernichtung und den gierigen Profit. Zwangsarbeiter, von den Nazis aus ganz Europa verschleppte Menschen, sollten die Herrschaft des dritten Reiches nähren. Das Töten wurde in dieser Zeit industrialisiert mit einem Höhepunkt Auschwitz als Inbegriff der Fabrik für den Tod.

Dich sticht, dass das niemand dargestellt haben soll.

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

III.

In einer Mondlandschaft. Schichtwechsel im Tagebau. Beim lesen des Bildtitels verstehst du die gelösten Gesichter der Arbeiter.

Duschen.

Umziehen.

Zuhause hat die Frau den Kuchen fertig.

Vielleicht gibt es noch ein Bier in der Werkskantine. Du denkst dir zu den Arbeitern eine einfache, eine behagliche Umgebung. Frau und Kinder. Ein kleines Wochenendgrundstück. Eine Neubauwohnung.

Jeder macht sich seinen Reim auf die Welt. Etwa:

Früher schon in dem Gespräch sind wir übrigens auf das Verhalten der amerikanischen Soldaten im Korea-Krieg und im Vietnam-Krieg gekommen. Damals, in Korea, seien sie noch zusammengeklappt wie die Fliegen. Man hat ganze Psychologenkongresse einberufen, um dieser Tatsache zu begegnen. Inzwischen muss man irgendwas mit den Leuten angestellt haben, was, weiß ich nicht. Aber in Vietnam kippen sie nicht um.

Dörfer verschwinden auch ohne den Krieg. Die holt sich der Kohlebagger. Die Bewohner werden umgesiedelt, entschädigt. Mancher hat sich schon umgebracht, weil der Tagebau wie ein Krebsgeschwür auf sein Haus zugewachsen ist. Der Wuchertagebau ist auf allen Ebenen eine Wucherscheiße, die die Leute frisst, denkst du bei dir. Seht nur, dort stand mal ein Dorf. Du denkst an die vielen Tränen, die durch den Kohlenstaub in den Gesichtern geronnen sind. Oft war es auch Korn, der übers Kinn des Verzweifelten lief, denkst du bei dir.

Ob Gustav Harkorts Blick hier sticht, siehst du nicht.

IV.

Du fragst dich gerade, welches Zeitalter denn nun das wahre goldene Zeitalter war, als du den Jahrtausendschritt entdeckst. Dass man über die Medien die Massen still halten kann, denkst du. An die berühmten drei Affen denkst du.

Der Mensch hört, was er hören will.

Der Mensch sieht, was er sehen will.

Der Mensch sagt nichts dazu.

Von der Grenzerfahrung in Glas bist du gefesselt. Das Überschreiten von Grenzen – im Guten wie im Schlechten – macht den Fortschritt aus. Schnell drängt sich dir die Frage auf, welche Grenzen als nächste Überschritten werden. Zunächst, so denkst du bei dir, wirst du mit deinem Handy aus dem zwanzigsten Jahrhundert noch etwas hinkommen, hoffst du und musst schmunzeln.

Ein Wachschutzangestellter wird gebeten, die Staubsaugerroboter einer Installation in Gang zu setzen. Der Künstler hat den Staubsaugerrobotern die Namen Ava, Tom und Serena gegeben. Es braucht eine Weile, bis die drei ihre Ladestation verlassen. Der Wachschutzangestellte kommt mit einer Gruppe Museumsbesucher ins Gespräch. Du denkst bei dir, dass es über die Namen ein Leichtes wird, die Roboter zu lebendigen Wesen zu erheben. Wesen, für die es eines Tages Rechte und Pflichten im Grundgesetz geben wird. Der Wachschutzangestellte sagt zu den Museumsbesuchern, dass die drei Staubsaugerroboter etwas liebesbedürftig sind. Das ist sie nun, die Zeit, in der wir leben, denkst du bei dir.

Gustav Harkort – stich doch nochmal! Gustav Harkorts Blick sticht nicht mehr. Er ruht auf seinem Marmorsockel und der Wachschutzangestellte schaltet die Staubsaugerroboter aus.

Auf Wiedersehen.

Schönen Feierabend!

Danke, ihnen auch einen schönen Abend.

 

Quellen der verwendeten Textausschnitte sind:

 – Weltall Erde Mensch, verschiedene Autoren, Verlag Neues Leben, 1954

– Vom Sinn unseres Lebens, verschiedene Autoren, Verlag Neues Leben, 1983

– Ein Tag im Jahr, Christa Wolf, Luchterhand, 2003

– „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“  Zitat von Ingeborg Bachmann

– „Wo Licht ist, ist auch Schatten.“ Zitat von Goethe

Credits

Textcollage: Nils Müller, freischaffender Autor in Leipzig

Foto: moritzpress

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