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Halle: Mehrschichtiges Sittengemälde

Halle: Mehrschichtiges Sittengemälde

Walter Sutcliffe inszenierte Giacomo Puccinis populäre Oper „La bohème“

Giacomo Puccinis 1896 in Turin uraufgeführtes Meisterwerk und seine wohl bedeutendste Bühnenkomposition bezieht ihre soghafte Wirkung von ihrem bittersüßen musikalischen Ende her. Die schwindsüchtige Stickerin Mimi stirbt an Armut. In Halle vermitteln die Tragik des unerhörten Geschehens in seiner ganzen Unmittelbarkeit die ukrainische Sopranistin Anastasiia Doroshenko und ein ausgeglichen gutes Sängerensemble.

Von Moritz Jähnig

Die noch am Anfang Ihrer Laufbahn stehende Sopranistin Anastasiia Doroshenko in der Partie der Mimi

Es bietet sich diesmal an, mit solchen musikalischen Vorzügen die Schilderung der erlebten Neuinszenierung zu beginnen. Nicht nur Anastasiia Doroshenko, deren Figurenentwicklung als Midinette Mimi von zutiefst berührender Authentizität geprägt ist, zog das Publikum mit unendlich warmer Sopranstimme in ihren Bann. Hervorzuheben ist die große Orchesterleistung.

Wie schon im „Rosenkavalier“ von uns bewundernd beobachtet, leitet Fabrice Bollon in „La bohème“ die Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle wieder leidenschaftlich an. Halles GMD, den wir in den Nullerjahren als Inspirator der Robert-Schumann-Philharmonie in Chemnitz erlebten, versteht sich darauf, Puccini erst schmerzhaft-dramatisch, dann sanft und zart, schließlich wieder beseelt und besonders gern tieftraurig klingen zu lassen. Grundsätzlich macht Ballon, der als Komponist international bekannt ist, die Puccini-Partitur durchsichtig. Jede Orchesterstimme für sich lässt er klar aufblühen. Der in Paris gebohrene Maestro scheut sich nicht vor der Macht der großen Gefühle. Das ist italienische Oper. Das machte die erlebte Aufführung schön.

Die Künstler-WG fällt als hoch moralischer Shitstorm über ihren Vermieter her

Spielfreudiges Sängerensemble

Chulhyun Kim begeistert als jugendlich frischer und gefühlvoller Poet Rodolfo mit einem beeindruckenden, manchmal grellen tenoralen Schmelz. Besonders jene Momente, in denen Chulhyun Kim Trauer und Verzweiflung ausdrückt, gelangen in großer emotionaler Darbietung. Andreas Beinhauer verleiht Marcello dem Maler mit seiner kraftvollen Stimme überlegen Ausdruck. Im Miteinander mit der Musetta von Franziska Krötenheerdt heben beide Ihre Szenen weit über den Durchschnitt hinaus. Wie Krötenheerdt den inneren Umschwung angesichts des Todes glaubhaft werden läßt, ist selten in solcher Intensität zu erleben. Michael Zehe gefällt als Musiker Schaunard durch differenzierte Darstellung und Ki-Hyun Park in der Rolle des Philosophen Colline überzeugt mit tiefem, weisen Bass.

Der Applaus galt dem von Frank Flade einstudierten Chor der Oper Halle wie dem von Bartholomew Berzonsky vorbereiteten Kinder- und Jugendchor. Die Bühne ist schier zu klein, um im 2. Bild der gigantischen Spielpower des Ensembles Raum zu geben.

Die Idee für das Bühnenbild ist ein überdimensionales Goldrahmengemälde

Goldgerahmte Distanz

Raum soll das Stichwort für die Beschreibung der Inszenierung sein. Er ist auf Halles Opernbühne eh beschränkt. Regisseur Walter Sutcliffe und Ausstatter Jon Bausor haben ihn zumindest optisch noch einmal verkleinert, indem sie die Handelnden weit entfernt, fast entrückt auf einem Gemälde positionieren. Es fällt auf, dass Personen und Gesichter im Schatten bleiben. Es ist dunkel. Auf der Oberfläche des Sutcliffeschen Gemäldes liegt eine gewisse Patina. Dem Rubensschen Hell-Dunkel-Prinzip folgend, gehörte Licht auf die Sänger.

Der vielschichtige Aufbau der Szenen mit Bilderrahmen und Spiegeleffekten assoziiert vieles. Wir haben es mit Künstlertum zutun. Ein Sittengemälde kann es sein – aber auch wieder nicht. Denn die Akteure tragen absolut genrefrei heutige, zeitnahe Kosüme. Sie holen Herztropfen und bedienen sich geläufiger, moderner Begrifflichkeit.

Hell-dunkel-Effekte im 4. Bild

Ironie, witziger Realismus oder Albernheit?

Übrigens völlig unfassbar sind Witzchen wie das, den Tisch für den Festschmaus in der Künstler-WG mit Seiten aus einer Tageszeitung der Nachbarstadt einzudecken. Also geht`s denn noch. Diesen herbeigeholten Zwist überhaupt weiterzutreiben, provoziert doch das Schimpfwort „Provinz“ geradezu herauf.

Im 1. Bild wird der Spaß durch die Behauptung zugespitzt, Monsieur Benoît, im Original „Der Hausherr“, also einen Mann, den der inzwischen geläufige Sprachgebrauch weit resepktloser „Der Vermieter“ nennt, im „X-CARREE“ gesichtet zu haben. Laut Eigenwerbung ist das „Sachsen-Anhalts größtes Bordell im Herzen von Halle“.

Besuch macht klug

Diese Gags sind nicht unumstritten, regen möglicherweise zum Nachdenken über die Oper und ihre Botschaft an. Mag der oder die Einzelne das damit Gesagte für sich geschmackvoll finden oder nicht, wie hier erlebt kamen alle – überflüssigen – Akualisierungen des Librettos beim Pumbikum an. Ein Einwand wäre, ob „La bohéme“ solcher Operetten-Stilmittel bedarf, um das permanente Nebeneinander von unabwendbarer Tragik und Komödie im menschlichen Leben verstehen oder eben nicht verstehen zu können. Lassen wir das als Frage stehen und empfehen einen Opernbesuch in Halle, um sich ein eigenes Bild zu machen.

Annotation

„La bohème“, Oper von Giacomo Puccini, Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach Henry Murger (In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln), Bühnen der Stadt Halle, Oper. Musikalische Leitung Fabrice Bollon/José Miguel Esandi, Regie Walter Sutcliffe, Bühne & Kostüme Jon Bausor, Lichtdesign Wolfgang Göbbel †, Choreinstudierung Frank Flade, Dramaturgie Boris Kehrmann

Besetzung

Rodolfo Chulhyun Kim, Marcello Andreas Beinhauer, Schaunard Michael Zehe, Colline Ki-Hyun Park, Benoit / Alcindoro Gerd Vogel, Mimì Anastasiia Doroshenko, Musetta Franziska Krötenheerdt, Parpignol Sebastian Byzdra, Staatskapelle Halle, Chor sowie Kinder- und Jugendchor der Oper Halle

Premiere 09.03.2024, besuchte Vorstellung 15.03.2024 unter der musikalischen Leitung von Fabrice Bollon, veröffentlicht 16.03.2024, eine Aktualisierung 16.3.2024

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Fotos: © Anna Kolata

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