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KENOTAPH – Malerei von Frank Degelow

Wann Kunst fahrbereit wird

„Man kann nicht mehr erreichen als das, was gerade da ist“, sagte Frank. Es war 12.45 Uhr an einem grauen Mittwoch im Januar. Wir saßen vor seinem Bild „Erinnerungen an K.“. Jetzt war es fertig.
Es war mein erster Besuch in seinem Atelier.
„Man weiß ja nie so richtig, wann etwas fertig ist“, hat er gesagt, als ich gekommen bin. Das war gegen 11 Uhr.

Von Susanne Werdin

Fertig – dieses Wort kommt von fahren und bedeutet ursprünglich fahrtbereit. Wann ist ein Bild fahrtbereit? Und fahrtbereit wohin eigentlich? Was war notwendig dafür, dass es in Erscheinung treten konnte? Dafür, dass es – wenn überhaupt – von einer vagen Vorstellung, ja, von einer vielleicht nur unbestimmten, aber doch irgendwie vehementen Empfindung in diese einzigartige Form der Sichtbarkeit überführt werden konnte? Und dafür, dass es nun so und nicht anders aussieht? Dafür, dass das Stadium, in dem seine Werke zu sehen sind, als das letzte ihrer Entstehung von ihrem Schöpfer anerkannt worden ist?

Mein Blick wandert in den Raum, in dem sein neues Bild auf einer Staffelei steht. Schon die Wände dieses Raumes sind Bilder: Sie zeigen die Geschichte von Generationen, die vor Frank Degelow hier gewohnt haben. Er bezieht sie ein, die Spuren der Unbekannten, die – wie jetzt er – auch hier zu Gast gewesen sind für einen Teil ihres Lebens. Er findet sich ein in dem, was er vor- und mit dem, was er aufgefunden hat.

Was er findet, ist nicht mehr das, was es einmal war: Auf dem Fensterbrett steht eine Vase mit alten Sonnenblumen und einem Lotosblütenfruchtstand. Neben dem Tierschädel zeigt er mir ein Glas voller kleiner schwarzer Gestalten: Pilze sollen das sein. Oder gewesen sein. Auf die Holztischplatte in der Küche schüttet er eine Sammlung kleiner, flach gedrückter, brauner, rundlicher Gebilde: Kronkorken, die keine Kronkorken mehr sind. Was ist es, das er da findet und aufbewahrt, wenn es keine Blüten, Pilze und Kronkorken mehr sind?

Was bedeuten solche Fundstücke für Frank Degelow? Ist es der Reiz der Formen, der Reiz der Geschichte, der Zeit? Ihrer Endlich- oder Unendlichkeit? Ihrer Vergänglichkeit oder ihres Überdauerns und ihrer Wandelbarkeit – sichtbar in den natürlichen Verformungen auch unorganischer Gestalten?

Frank zeigt mir zwei seiner realistischen Zeichnungen und erzählt mir die Geschichte von diesen Äpfeln. Zuerst erklärt er mir, was ein Winter in den Bergen bedeutet, „wo du“, sagt er, „nicht mal die Gipfel siehst!“. Dort lebte er lange und vergaß, dass es auch noch andere Jahreszeiten gibt, so scheinbar endlos dauerten Schnee und Kälte. Bis mildere Temperaturen unter der weißen Decke freilegten, was lange verschüttet war: Kleine dunkle, faltige Äpfel aus dem vergangenen Jahr. Da kehrten seine Lebensgeister zurück: Nämlich beim Anblick dessen, was einmal gelebt hat.

Frank Degelow findet und lebt mit Dingen, die einmal gelebt haben und nennt eine Ausstellung seiner Bilder „KENOTAPH“. Ein Kenotaph ist ein Schein-, ein Erinnerungsgrab, ein Grabmal für jemanden, der nicht aufgefunden und also auch gar nicht bestattet worden ist.
Sind also seine Bilder Erinnerungsbilder an etwas oder an jemanden, das oder den oder die er nicht aufgefunden hat und in dessen oder deren Stellvertretung er möglicherweise all diese Gestalten entdeckt und bewahrt – Gestalten, die ihr Leben gelebt haben und die sich von ihrem Leben haben formen lassen und die nicht begraben worden sind? Sollten seine Bilder der Versuch sein, etwas zu begraben? Oder sind sie vielmehr der Versuch, etwas wiederzubeleben, was schließlich noch gar nicht begraben worden ist? Oder ist seine Arbeit an den Bildern genau das, was Erinnern bedeutet: nämlich Innewerden. Er-innern. Innewerden dessen, was gewesen ist und was ist und was bleiben wird.

Auf dem Farbentisch im Atelier liegt Schrott zwischen Gläsern mit verschiedenen Erden und Emulsionen: rostige Eisenteile und andere Fundstücke: Frank Degelow zermörsert ihre groben Formen zu feinem Pulver und benutzt das, was vormals Schrott gewesen ist, schließlich als Pigment. Fundstücke werden Farbstoffe. Mit ihnen experimentiert Frank Degelow nicht nur an, sondern auch mit dem, was er darzustellen sucht:
Zum Beispiel märkischen Sand.

Er malt jedoch so wenig wie möglich. Er malt nicht mit seinen gefundenen Erden, sondern er schüttet sieund seine Emulsionen – wie Wetter über Land – auf altes, rohes Leinen und gibt dem Zufall – ähnlich der Naturgewalt – fast freien Lauf. Nach solchem Guss lässt er das flächige Gewebe erst einmal trocken und betrachtet, was passiert. Dann gießt er weiter oder schüttet oder klebt zu schön gewordene Stellen mit Fetzen zu, mit Fetzen aus Papier, aus Pappe oder auch mit Fotos aus der Zeit, in der er etwas sucht. Und Schicht um Schicht wächst eine Landschaft, die immer mehr die seine wird und schließlich ist. Dann nämlich ist es seine Landschaft, wenn er – wie mitten im Januar und mitten in Leipzig – jetzt und hier in einem dieser langen, heißen Sommer steht, als Kind, barfuß mitten im märkischen Sand.

„Wenn die Empfindungen sich wieder einstellen“, hat er gesagt. Und damit war das Bild fertig. Das war, wie gesagt, um 12.45 Uhr. Wenn das, was da ist, was „gespeichert“, was unter dem Vergessen bewahrt gebliebenist, wenn das die Gegenwart betritt und als Erinnerung, als ein Gedächtnis neu ersteht, dann hat – anstelle eines Grabmals – das Bild erreicht, was es erreichen kann. Dann ist es fahrtbereit. Zu Ihnen!

 

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