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Leipzig: Wortstrudel und Musik

Leipzig: Wortstrudel und Musik

Uraufführung „Luna Luna“ von Maren Kames am Schauspiel Leipzig.

Popliteratur für die Stadttheaterbühne zu adaptieren, will wohl überlegt sein. Maren Kames 2019 im Secession Verlag Zürich erschienenes Buch „Luna Luna“ ist ein lyrischer Text, auf den sich das Etikett Popliteratur kleben lässt, ohne Widersprüche auszulösen. Er wird andererseits auch schon mal in die Nähe eines Heiner Müller gerückt. Die Hörspielfassung im DLF, noch im selben Jahr urgesendet, trug dem Poppigen schwer Rechnung und wirkte verwirrend. Jetzt eine szenische Umsetzung auf der Großen Bühne im Schauspielhaus Leipzig von Intendant Enrico Lübbe, gesehen

von Moritz Jähnig  

Lisa Katrina Mayer in der Rolle „das Mödchen“ mit dem Chor

 „Das wird super“ schleudert die weibliche Hauptfigur, das lyrische Ich, „das Mödchen“, zu Beginn des Stückes den Zuschauern als ersten Satz entgegen. Und um es gleich zu sagen: Das Mödchen behält total recht. Alle bei Betreten des Hauses in der Leipziger Bosestraße möglicherweise gehegten vorurteilsschweren Bedenken gegenüber diesem Stoff, diesem Text, dieser Autorin sind nach zwei Stunden wie weggepustet. Als Publikum verlässt Du das Theater wie es idealerweise sein sollte, beschwingt und gedankenvoll, gut unterhalten.

Was ist da passiert? Wurden die Zuschauer mit Wolken veganen Alkoholdunstes trunken gemacht und ihrer Urteilsfähigkeit beraubt? Mitnichten. Die Wolken bildete nicht zu knapp verblasener Theaternebel, der durch die Szene waberte. Das Theater war als Theater ganz bei sich und zauberte. Die Bühnenkunst bot auf, was sie seit Jahrhunderten erprobtermaßen in ihrem Fundus führt: hintersinnige Kostüme, wirbelnde Lichteffekte und optische Illusionen, Musik und Tanz, grelles Gekreisch und sanfte, berührende Innigkeit der Sprache, Figurentheater, Kabarett und Cabaret, Videotechnik und Figurinen wie von Kinderhand gezeichnet.  Die Regie von Enrico Lübbe, vorzüglich unterstützt von Josa Marx (Kostüme) und Katrin Nottrodt (Bühne) sowie dem gesamten künstlerisch-technischen Team nimmt die literarische Vorlage der schon vielfach geehrten, in Berlin lebenden Autorin und baut daraus und darum eine mitreißende Revue.

In der erlebten zweiten, sehr gut besuchten Vorstellung löste das Spiel ungeteilt Jubel und anhaltenden Beifall aus. Dreimal schien die Einigkeit zwischen Bühne und Publikum besonders stark hergestellt: als die wilde Mondfahrt in einem herrlich improvisierten Raketenstart abgeht, so wie am Beginn der Industrialisierung zum Beispiel mit „Frau Luna“ auf den Bühnen der Flug in Zukunft begann. Dann als „Atemlos durch die Nacht“ der ikonischen Helene einen ganz anderen Assoziationsraum auftat, in dem sich heute jeder neben dem „Mödchen“ wiederfindet, ob er will oder nicht. Aber ganz besonders wurde es, als der Tilo Krügel, ein Albert Einstein im Büßerhemd, an der Rampe das alte Kinderlied „Heile, heile Gänschen“ singt. Er schafft es, dass wie erstarrt lausche Publikum zum erleichternden Mitsingen zu animieren. Zweifellos ein wirklich sehr starker Moment unter den vielen guten Schauspielerleistungen. Christoph Müller spielt ganz großartig fern aller Travestiegangs die Mutter-Geisha und Michael Pimpelforth pantomimisch stark den Sheitan.  

Es gab in Leipzig einst „Bambis“, und es gibt noch „Goldene Hennen“. Aber eigentlich für die Leistung des Chores sollte ein eigener, ein richtiger Preis ausgelobt werden. Was diese neun Leipziger Schauspieler und Schauspielerinnen gesanglich und darstellerisch in der Inszenierung bieten, ist preiswürdig!   

Im Mittelpunkt der Aufführung steht Lisa-Katrina Meyer als erzählende, erlebende Ich-Figur. Ihr Mödchen hat alle Sympathien, tritt sehr beweglich und quirlig auf und tanzt gut. Sie wirkt bei allem rotzig frech und doch verletzlich. Was sie noch nicht zeigt ist, den Zuschauer auf der Ebene der Sprachkultur in jenen Sog hineinzuziehen, den „Luna Luna“ beim Lesen entwickelt.

Muss in der gewählten nummernartigen Umsetzung vielleicht auch nicht. sein. Denn, wie eingangs gesagt, trägt diesen Abend kein existenziell tief lotender oder flach bleibender literarischer Trivialtext, der da zelebriert und – wie bei einem Heiner Müller – in Stein gehauen wird. Auf der Bühne läuft eine lupenreine theatralische Collage. Sie erzählt von den Umbrüchen, Verzweiflungen und Neustarts, die jedem Menschen im Leben mehrfach widerfahren, nicht nur an der Schwelle zum Erwachsenenleben. Insofern ist, was das „Mödchen“ in „Luna Luna“ quält, eine alte Geschichte, die just immer neu passieret. Die Inszenierung am Schauspiel Leipzig zeigt, dass sich nichts in Harmonie auflöst. Aber alles löst sich und geht weiter. „Das wird super.“

Annotation

“Luna, Luna” von Maren Kames, Uraufführung am Schauspiel Leipzig, Große Bühne. Regie Enrico Lübbe, Musikalische Leitung Daniel Barke, Bühne Katrin Nottrodt, Kostüme Josa Marx, Choreographie Salome Schneebeli, Dramaturgie Torsten Buß, Video Kai Schadeberg, Licht Veit-Rüdiger Griess, Theaterpädagogische Betreuung Swantje Willems. Besetzung: Tilo Krügel, Lisa-Katrina Mayer, Christoph Müller, Michael Pempelforth, Diana Labrenz; Chor: Daniel Barke, Jonas Enseleit, Sabrina Häckel, Toni David Linke, Martin Lorenz, Carsten Göpfert, Lilly Ketelsen, Alice Wohlust (Chor Ersatz Sabrina Häckel, Jonas Enseleit)

Credits

besuchte Vorstellung 08.10.2022, veröffentlicht 09.10.2022, weitere Termine 16.10., 19.30

Text: Heinrich Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Fotos (3): © Rolf Arnold

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