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Leipzig: Hat das Bubi Heimweh?

Leipzig: Hat das Bubi Heimweh?

„Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ in einer Bearbeitung von Lukas Leon Krüger im Foyer 1  

Robert Musils Romanerstling zu lesen, bleibt auch 119 Jahre nach seinem Erscheinen ein Vergnügen – und eine Herausforderung. Musils analytischer Blick auf Macht, Moral und Erkenntnis wirkt erschreckend aktuell. Ihn auf die Bühne zu bringen, heißt, eine Auswahl treffen zu müssen: Welche Schicht, welchen Erzählstrang dieses komplexen Textes will ich erzählen?

Von Moritz Jähnig

Szene mit Samuel Sandriesser als Törleß / Basini, Nicolas Streit als Reiting / Basini, Konstantin Pfrötzschner; im Hintergrund Paulina Bittner als Mutter / Božena / Mathematiklehrer / Direktor

Auf den ersten Blick schildert der Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ den Alltag in einem österreichisch-ungarischen Internat um 1900, irgendwo in der Provinz. Hinter der scheinbar intakten Ordnung zeigt sich ein beklemmendes Panorama seelischer Unfertigkeiten und gesellschaftlicher Verwerfungen. Musil, selbst Internatszögling, seziert in der fest umgrenzten Welt zwischen Schlafsaal, Klassenzimmer, Caféhaus, Bahnhof, Mägdekammer und Dachboden die Mechanismen von Macht, Unterdrückung und moralischer Entgrenzung.

Anstoß gibt das grausame Verhalten der Schüler Reiting und Beineberg, die ihren Mitschüler Basini beim Diebstahl ertappen und, statt ihn anzuzeigen, erpressen, quälen und erniedrigen. Dafür schieben sie hehre Grüne ins Feld. Der beobachtende Törleß, zunächst distanziert, weil selbst nicht wirklich dazugehörig, gerät in den Bann dieser Brutalität. Aus Neugier und Erkenntnisdrang überschreitet er selbst moralische Grenzen. Vorgeführt wird vom Autor das Funktionieren eines autoritären Machtapparates. Musils Frage bleibt bis heute verstörend offen: Wie weit darf der Mensch gehen, um sich selbst zu verstehen?

Regisseur Lukas Leon Krüger entwickelt seine Erzählung im Spielort Foyer 1 des Leipziger Schauspielhauses. Ein Foyer ist ein Durchgangsraum per se. Hier hält sich mensch nur im Vorübergehen auf. Es gibt Muschebubu-Beleuchtung und sinnliches Stöhnen regt die Phantasie der im Halbrund vor einem Stiegenturm sitzenden Zuschauer an.  Neben dieser metallenen Wendeltreppe liegen Leuchtröhren auf dem Boden, die während des Spiels von den Akteuren aufgerichtet werden.

Szene „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Dahinter stolziert auf dem langen Garderobentisch Paulina Bitter (zugleich Mutter, Božena und Direktor) als Matheprofessor vor einem Prospekt mit einer arkadischen Landschaftsmalerei und doziert Törleß über abstrakte Theorien.

Die vier Darsteller – Nicolas Streits (ein eiskalter Reiting), Konstantin Pfrötzschner (ein mit eigener Deklassiertheit ringender Beineberg), Samuel Sandriesser (ein lyrisch suchender Törleß) und Paulina Bitter – wechseln sich ständig in der Erzählerfunktion ab. Die Rolle des Basini wird von allen verkörpert – eine Entscheidung, die das Opfer zum Spiegel des Täterhaften in jedem macht. In einer zentralen Szene verknäuelt sich die Gruppe auf dem Stiegenturm körperlich. Ein drückliches Bild innerer Verstrickung.

Lukas Leon Krügers Inszenierung verlangt Konzentration und Offenheit, bietet dafür einen intensiven, gedanklich anregenden Theaterabend. Kein psychologisches Realismusdrama, sondern ein seelisches Experiment im Spannungsfeld zwischen Grausamkeit, Erkenntnis und Schuld.

Ein kluger, beklemmend aktueller „Törleß“, gesehen als Türöffner zu einem Roman mit seinen vielen Aspekten.

Annotation

„Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. Nach dem Roman von Robert Musil. Schauspiel Leipzig. Regie & Kostüme: Lukas Leon Krüger, Bühne: Stella Vollmer, Dramaturgie: Georg Mellert, Licht: Dimitri Paulin, Ton: Anne Leira van Poppel y Lubeigt, Heribert Weitz, Soufflage (Proben): Lara-Chayenne Zwickert, Maske: Barbara Zepnick, Requisite: Sebastian Hubel, Bühnenmeister: Patrick Ernst

Besetzung

Samuel Sandriesser als Törleß / Basini

Nicolas Streit als Reiting / Basini

Konstantin Pfrötzschner als Beineberg / Basini

Paulina Bittner als Mutter / Božena / Mathematiklehrer / Direktor

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker Leipzig

Fotos: © Rolf Arnold

Besuchte Vorstellung: Premiere 30.10.2025; veröffentlicht 4.11.2025

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