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Nürnberg: „La Traviata“ die Zeitgenössin

Nürnberg: „La Traviata“ die Zeitgenössin

Ilaria Lanzinos radikale Neuinszenierung von Verdis Opernklassiker lässt aufmerken

Auf den roten Proszeniumsvorhang wird in der Neuinszenierung von „La Traviata“ am Staatstheater Nürnberg verzichtet zugunsten einer überdimensionalen LED-Wall, auf der Violetta und ihre Freunde bei Vorglühen vor einer ausgelassen Partynacht zu beobachten sind. Unerwartete Bilder. Aber hier fängt Ilaria Lanzino mit ihren Bildern erst an …

Von Moritz Jähnig

Szene 1. Akt (v.l.n.r.): Sara Šetar, Laura Hilden, Kellan Dunlap. Im Hintergrund: Chor, Ensemble,
Statisterie

Tanz auf den Abgründen

Die Party läuft großräumig auf den drei Ebenen des schwarzen Bühnenraums. Martin Hickmanns Podeste und Treppen lassen sich rasch verschieben und schaffen so mit geringstem Aufwand wirkungsvolle atmosphärische Veränderungen. Während des Vorspiels überlagern sich Raum und Musik zu einem gottvergessenen Tanz glitzernder Körper zwischen vielen gleißenden Lichtern. Hier wie in allen folgenden Auftritten erfüllt der Chor, vorbereitet von Tarmo Vaask, nicht nur gesanglich, sondern auch choreografisch anspruchsvollste Aufgaben.

Zum Vorspiel ist locker Partytime angesagt. Mittendrin spielt sich ein Albtraum ab: In einer separaten Ecke formiert sich ein Komitee der Erniedrigung. Eine Gruppe Männer mit Bocksmasken vergewaltigt ein wehrlos gemachtes Mädchen. Wie Gisèle Pelicot jahrzehntelang von ihrem Ehemann, wird Violetta hier von ihrem Begleiter, Baron Douphol, an andere Männer „weitergereicht“. Einer der Täter streamt die Tat auf seinem Smartphone live ins Netz; Kommentare und Likes prasseln herein, befeuern die Täter zusätzlich.

Zu Beginn der eigentlichen Opernhandlung sehen wir eine Violetta, die jede Lust am Leben verloren hat. Sie erträgt keine Berührung mehr und verbirgt ihren Körper in einem Häschenkostüm, als wolle sie aus Scham unsichtbar werden.

Szene „La Traviata“ t.

Die Begegnung mit Alfredo, der so anders ist als die Männer mit den Bocksmasken, ruft ihre Lebensgeister erneut auf den Plan. Die beiden gestehen sich ihre Liebe ausgerechnet in einem verdreckten Pissoir. Der strahlende Wohlklang des 19. Jahrhunderts kontrastiert mit dem breitgeschmierten Throw-Ups unserer Welt.

Familienidyll in Hochglanzweiß

Im zweiten Akt schlägt die Szenerie radikal um: Die makellos weiße Salonwelt der Familie Germont könnte direkt aus einem Claude-Chabrol-Film stammen. Violetta wird mit den zeremoniösen Gesten bürgerlicher Wohlanständigkeit in dieses Reich der Selbstzufriedenheit aufgenommen. Der Vater überreicht ihr ein Brillantarmband, die künftige Schwiegermutter streift Violettas Wange mit gespitzten Lippen, Alfredos Schwester gibt sich als „beste Freundin“.

Doch die Fassade bröckelt: Der Verlobte der Schwester erscheint verspätet und erkennt in der Fremden am Tisch jene Frau wieder, die er kürzlich mit seinen Kumpels missbrauchte.

Im Heim der Familie Germont (v.l.n.r.): Sangmin Lee, Giorgio Germont; Andrea Schwendtner, Mutter; Andromahi Raptis, Violetta; Sergei Nikolaev, Alfredo; Stefanos Karamperis-Gatsias, Verlobter; Sophia Czerwinski, Tochter

Stefanos Karamperis-Gatsias macht in einer schauspielerischen Momentstudie diese Figur hoch authentisch. Der theatralische Auftritt des Bürschleins, die Drohung, die Verlobung zu lösen, setzt eine fatale Kettenreaktion in Gang. Die Familie schlägt sich ohne Nachdenken auf die Seite des „Ehrbaren“ und Patriarch Germont wirft Violetta mit warmen Worten hinaus.

Täter werden zu Opfern verklärt, Opfer zu Störfaktoren erklärt. Lanzino zeigt diesen Prozess als zeitgenössischen Albtraum in Hochglanzweiß.

Kein Schmelz, kein Trost

Musikalisch meidet Dirigent Björn Huestege mit der Staatsphilharmonie Nürnberg jede Sentimentalität. Er gönnt dem Publikum kein Liebesschwelgen, kaum eine wehmütige Phrase – was perfekt zu dieser kompromisslosen Inszenierung passt.

Regisseurin Ilaria Lanzino wagt starke, manchmal schmerzhafte Bilder und findet eine radikal gegenwärtige Übersetzung von Verdis „La Traviata“. Ihre hyperrealistischen Filmeinspielungen, die präzise verzahnten Tutti-Szenen von Ensemble, Orchester und Videorhythmus schaffen eine bedrängende Gegenwart. Kein Schmelz, kein Trost – diese Oper ist ein Spiegel unserer digitalen Selbstverliebtheit. Hier tanzt niemand mehr auf dem Vulkan, hier scrollt man über Abgründe hinweg.

Stimmen der Gegenwart

In Nürnberg sang in der ersten Premiere Andromahi Raptis die Partie der Violetta. Die griechisch-kanadische Sopranistin, in Dessau und Halle keine Unbekannte, gestaltet eine zerbrechliche, traumatisierte Frau, der man auch auf der Straße begegnen könnte. Gesanglich legt sie bis in die feinsten Höhen eine alarmierende Melancholie.

Die Sterbeszene. Violetta, Andromahi Rapti (r.) agiert wie eine Kommentatorin der Vorgänge, hier mit Sergei Nikolaev, Alfredo.

Sergei Nikolaev als Alfredo ist ihr ein sehr passender Partner, kein strahlender Tenor-Held an der Rampe stehend, sondern ein vom Vater getrietzter Mann, der endlich die Liebe findet, dessen Glück aber in sich selbst zerbricht.

Violettas Freundeskreis ist bunt und warmherzig besetzt: Sara Šetar als offene, sympathische Flora, Kellan Dunlap als Gastone, Wonyong Kang als Marquis von Obigny, Laura Hilden als Annina. Im dritten Akt ergänzt Nicolai Karnolsky als Doktor Grenvil ein schauspielerisch bemerkenswertes Ensemble, das bewusst unspektakulär auftritt und stimmlich bestens auftritt.

Demian Matushevskyi gibt den Baron Douphol nicht als dämonischen Gegenspieler, sondern als bullig-posenden Machttypen. Er führt die Tätertruppe an. Der Gegensatz zum stillen Alfredo könnte kaum größer sein.

Besonders hervorzuheben ist Sangmin Lee als Vater Germont: Mit baritonalem Glanz und großer Empathie verleiht er seiner herzlos handelnden Figur Mitgefühl. Seine Entscheidung, Violetta zu opfern, löst das Verhängnis aus und zeigt ihn zugleich selbst als Opfer.

Szene „La Traviata“. Die bunten aufwendigen Kostüme entwarf Carola Volles

Verstörend, berührend, notwendig

Die Differenziertheit in den Figurenhaltungen und in der musikalischen Gestaltung macht diese Inszenierung besonders. Die Schwere des Verbrechens, das zu Violettas Ächtung und Tod führt, bleibt sichtbar, ohne in grelle Anklage umzuschlagen.

Ilaria Lanzinos „La Traviata“ ist kein ästhetisches Experiment, sondern ein scharfer, schmerzlicher Kommentar zu unserer Gegenwart: eine Oper über Gewalt, Heuchelei und digitale Kälte. Im Zentrum eine Frau, die daran zerbricht. Das Publikum reagierte mit lstarkem Beifall, doch auch mit erschrockenem Buh.

Annotation

„La Tra­viata“. Oper von Giuseppe Verdi, Text von Francesco Maria Piave nach „La Dame aux camélias” von Alexandre Dumas. Staatstheater Nürnberg; Musikalische Leitung: Björn Huestege, Regie: Ilaria Lanzino, Bühne: Martin Hickmann, Kostüme: Carola Volles, Chorleitung: Tarmo Vaask, Dramaturgie: Wiebke Hetmanek, Video: Lisa Rodlauer, Max Hammel, Licht: Susanne Reinhardt

Besetzung

Violetta: Andromahi Raptis/ Elisa Verzier, Flora Bervoix: Sara Šetar, Annina: Laura Hilden, Mitglied des Internationalen Opernstudios, Alfredo Germont: Sergei Nikolaev, Giorgio Germont: Sangmin Lee, Gastone: Kellan Dunlap, Mitglied des Internationalen Opernstudios, Baron Douphol: Demian Matushevskyi, Marquis von Obigny: Wonyong Kang, Doktor Grenvil: Nicolai Karnolsky, Mutter: Andrea Schwendtner, Staatsphilharmonie Nürnberg; Chor des Staatstheater Nürnberg; Statisterie des Staatstheaters Nürnberg

Credits

besuchte Vorstellung: Premiere 4.10.2025; veröffentlicht: 6.10.2025

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig; Herausgeber

Fotos: © Pedro Malinowksi

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