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Wie optimiert sich der Mensch?

Wie optimiert sich der Mensch?

Kunstwerke aus der Region – Fragen von globaler Relevanz.

Industriekultur Leipzig e. V. und das Leipziger Museum der bildenden Künste eröffneten das Jahr der Industriekultur 2020 mit einer spannenden und gedanklich herausfordernden Ausstellung. Der Verein begnügt sich zum Glück nicht mit der Rekapitulation einer fakten- und anekdotenreichen Regionalschau: Wo liegt das Glück des optimierten Menschen? Zwischen der anatomisch-mnestischen Struktur des Homo sapiens und dessen Optimierung zum Homo novus durch zivilisatorisch-industrielle Prozesse gibt es in aktuellen Diskursen keine verbindliche Scheidelinie. Separat betrachten lassen sich allerdings die Physis des (optimierten) Menschen und seine Existenzbedingungen in industrialisierten Ambientes. In „Der optimierte Mensch“ geht es also vor allem um das, was Menschen in einer technisch optimierten Welt ereilen konnte, kann bzw. könnte.

von Roland H Dippel

Für Trendjäger ist der Haupttitel dieser Ausstellung irreführend. Aber er zeigt über dem präzisierenden Untertitel „Momente der Industriekultur in der bildenden Kunst“ die Zukunftsorientierung der Veranstalter. Bei der Gliederung begnügte man sich also nur scheinbar mit der chronologischen Reihung der Exponate. Vielmehr beinhaltet der Parcours im Untergeschoss des Museums der bildenden Künste Leipzig die Aufforderung zu einem Vergleich und Perspektivenwechsel zwischen den vier Perioden der Industriegeschichte seit deren Beginn im 18. Jahrhundert. Beim Durchbrechen der linearen Reihenfolge offenbart sich eine Vielfalt an Betrachtungsmöglichkeiten, Voraussetzung dafür sind von Seite der Betrachter Offenheit und Mitdenken. Zum Beispiel stellt sich durch die Zeitverhaftung der spätestens mit dem Mauerfall 1989 abgeschlossenen Ära des Sozialistischen Realismus die Frage, was für eine Relevanz das optimierte Menschsein in verschiedenen Gesellschaftssystemen bedeutet. Bei der Führung entrollt die Kuratorin Barbara Röhner zu den vier industriegeschichtlichen Perioden von Dampfmaschine (1.0), Elektrizität (2.0), Automatisierung (3.0) und Digitalisierung (4.0) einen explizit historischen Leitfaden.

Die Chronologie der Ausstellung spiegelt die zunehmend aufwändigeren Mittel der kreativen Darstellung von Industrialisierung und deren Auswirkungen. Die Gestaltungsmittel werden von Ismael Mengs‘ Porträt des Leipziger Kaufmanns Burghard Raabe (ca. 1728) bis zu Stefan Hurtigs Rauminstallation „Ava, Tom & Serena“ mit drei auch auditiv animierten Staubsaugern vielgestaltiger, mehrdimensionaler, aufwändiger und abstrahierender. Einige ältere Werke strahlten Empathie aus, Richtung Gegenwart wird die künstlerische Haltung sachlicher und abstrakter: Der optimierte Mensch schafft auch optimierte Kriege, in der aus weiter Entfernung ausgelöste Präventivschläge reibungslose Vernichtungsresultate ermöglichen. Angesichts der sich von Zellen und Fabrik-Ambientes in die räumliche und mediale Weite dehnenden Motive bewahren die Kuratoren Barbara Röhner, Dietulf Sander und Moritz Jähnig einen Blick ohne Betroffenheitsrhetorik.
In der ersten Phase der Industrialisierung reicht das Spektrum der Exponate von Porträts, die Firmengründer als honorable Autorität in Szene setzen, bis zu Hubert von Herkomers dokumentierendem Gemälde „Die Auswanderer (Drang nach Westen)“ (1884). Danach gewähren diese auch voyeuristische Einblicke in die den Auftraggebern und (groß-)bürgerlichen Rezipienten fernen Arbeitswelten, die sich vor 1900 verbreiteten und wandelten wie heutige Berufsbilder durch Digitalisierung und Medialisierung. In spannend angeordnete Reibungsnähe geraten drei Werke: Rudolf Küchlers Bronzeplastik „Leben ist Arbeit“ (um 1900) heroisiert den Arbeiter als körperliches Ideal von antikisch verstandener Schönheit. Gegenüber zeigt Fritz Noldes „Ausgepresster Prolet“ (1928/29) mit hängender Joppe, hängenden Schultern, hängendem Blick die Resultate der industriellen Effizienz. Dahinter Elisabeth Voigts Gemälde „Der Maschinenmensch (Der Unternehmer)“ (1932/48), auch das Bildmotiv zur Promotion der Ausstellung: Die Allegorie einer von technischen Attributen bedeckten und mit ihnen verwachsenen Figur scheint ohne diese Bestandteile wesenlos und menschlich verkümmert: Moloch Kapital höchstselbst. Es ist das einzige Objekt in dieser Ausstellung mit einem plakativ aufschreienden Wirkungsakzent. Zufall oder vorsätzliche Auswahl? Der emotionale Output der meisten Exponate bleibt gelassen, beschränkt sich auf das Dokumentieren und enthält nur wenige direkte Appelle zum Widerstand.

Gemälde von Schauplätzen im Industrieviertel Leipzig-Plagwitz verweisen auf regionale Ausprägungen technischer und sozialer Entwicklungen. Ausführende Künstler suchten Bezüge zwischen der Antike und Entwicklungen ihrer Gegenwart. Günter Firits „Leben in Technologistan II“ (1979) bestätigt, dass in West und Ost vergleichbar große Ängste vor einer unterjochenden Industrialisierung aufkamen.

Wann werden menschliche Optimierung und die Entsorgung des Menschen identisch? Olaf Martens‘ Fotographie „Leibnizprojekt I-0“ kokettiert wie die Performance des Künstlers zur Vernissage mit der Vereinheitlichung von Mensch und Maschine zum Cyborg. In Stefan Hurtigs Rauminstallation „Ava, Tom & Serena“ (2019) gibt es bereits keine Menschen mehr. Die Staubsauger richten ihre Parolen zur Selbstoptimierung aber an menschliche Rezipienten, die sich als bisheriges Spitzenprodukt der organischen Evolution definieren.

Spannend an der offenen Anordnung der vier Ausstellungseinheiten von der Dampfmaschine zur Digitalisierung ist auch deren visuelle Durchlässigkeit. Die Dynamik der historischen Entwicklung gewinnt höhere Bedeutung als Fragen aus der Perspektive der Gegenwart. Mit der Auswahl aus einem spezifischen Leipziger Kontext erklimmt die Anordnung durch die in den Betrachtern aufgerissenen Fragen eine globale Dimension. So ist dieses Ausstellungsprojekt, das sich betont sachlich gibt, eine neutralisierende Annäherung an potenzielle Katastrophen. Der erste große Leipziger Beitrag zum Jahr der Industriekultur weitet sich ohne bekräftigende Tendenzen Richtung positive oder negative Utopie zu einem kulturgeschichtlichen Abriss für jugendliche und erwachsene Besucher.

 

Annotation:

Ausstellung „Der optimierte Mensch“ bis 01.03.2020 – Museum der bildenden Künste Leipzig, Katharinenstraße 10, 04109 Leipzig, T +49 341 21 69 90, mdbk@leipzig.de – Öffnungszeiten: Di, Do bis So 10-18 Uhr, Mi 12-20 Uhr, Feiertage 10-18 Uhr – Tickets: 10€/ermäßigt 5€ und Sonderpreise

Rahmenprogramme, Kuratorenführungen, Informationen u. a.: http://deroptimiertemensch.de/

Industriekultur Leipzig e. V. bietet ein umfangreiches Angebot an Begleitveranstaltungen: https://www.industriekultur-leipzig.de/termine/

 

Credits:

  1. Kunstwerk (Wand): Ines Bruhn (geb. 1959)/Martin Kretschmar (geb. 1988) »Das ist der Preis«, 2018, PLA weiß, Papier, textiler Faden, je 33 x 23,5 x 8 cm, im Besitz der Künstler
  2. Kunstwerk (Installation): Christiane Budig (geb. 1969) »Grenzerfahrung«, 2018,
    5 Glassegmente in Form geschmolzen, z.T. Hinterglasmalerei,
    2 Holzbohlen, 100 x 120 x 100 cm, im Besitz der Künstlerin

Foto: © punctum

veröffentlicht 26.12.2019

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