Donizettis „Lucia di Lammermoor“ als feministische Revolte
Wer sich mit einer Aufnahme von Maria Callas in der Titelpartie – 1955 unter der „Stabführung“ Herbert von Karajans im Theater des Westens – auf „Lucia di Lammermoor“ in Gera 2025 vorbereitet, erlebt, was echte Zeitenwenden bedeuten.
Von Moritz Jähnig

Ungewöhnliches im „Lammermoor“ entfacht Begeisterung in Gera
Nach einem nicht übermäßig getragenen Vorspiel fliegen im Zuschauerraum die Türen krachend auf: Eine mit Taschenlampen herumfunzelnde Männermeute jagt eine junge Frau im weißen Hemd und roten Mantel. Vergeblich versucht sie, ihren Häschern zu entkommen – Normannos Truppe stellt ihr „Wild“ und setzt ihm brutal zu.
Die Premiere der Neuinszenierung von Gaetano Donizettis Meisteroper „Lucia di Lammermoor“ in einer feministischen Lesart durch die in Wien studierende Regisseurin Elena Maria Artisi, musikalisch betreut von Dirigent Thomas Wicklein, everstzte ein ausverkauftes Theater in Hochstimmung.
Schon zum Vorspiel wurde Wicklein, seit 1989 Kapellmeister des Hauses, mit demonstrativem Beifall im Graben begrüßt. Am Ende: Begeisterung, Jubel, Standing Ovations und ein lang anhaltender Schlussapplaus ohne ein einziges Buh.
Das hätte auch anders kommen können, denn das ähnlich radikale Konzept von Ilaria Lanzino in Nürnberg, die 2023 Lucia in den „hübschen, schwulen Luca“ verwandelte, war im Staatstheater der Frankenmetropole nicht ohne Widerspruch geblieben.

Gefangen im Patriarchat – Lucias Welt als Kellerverlies
In der literarischen Vorlage zum Libretto von Salvadore Cammarano lebt Lucia auf einem nebelverhangenen Schloss über den schottischen Lowlands, im Lammermoor. In Gera ist sie in einem Kellerverlies untergebracht. Durch Spalten in der gekippten Zimmerdecke fällt ein Schimmer Licht auf die schiefen Wände. An verrosteten Rohren hängt ein Waschbecken. Bühne und zitatenfrohe Kostüme stammen von Mirjam Miller.
In diesem Dreckloch bewahrt Lord Enrico Ashton seine Schwester Lucia, „die Leuchtende“, auf. Sie ist sein letzter verbliebener Besitz, den er politisch vorteilhaft zu nutzen hofft. Lucias Brautkleid ist ein schmerzendes Korsett. Männer wie Frauen beteiligen sich an den patriarchalen Übergriffen und zerren an Lucia herum.
Liebe, Täuschung und Wahnsinn
Vertrauen schenkt die Einsame nur ihrer Zofe Alisa, hier im angedeuteten Habit einer Ordensschwester, und dem Priester, der in weißer Soutane und mit theatralischer Pellegrina, aber schwarzen Handschuhen, seinen Segen spendet. Doch auch zu diesen von patriarchaler Ordnung geprägten Figuren entwickeln sich keine wirklich rettenden Beziehungen.
Lucia bleibt allein. Sie wird um ihre Liebe zu Edgardo Ravenswood gebracht und durch Täuschung in den Wahnsinn getrieben. Ihr blutverschmiertes Kleid entlarvt den Ehevollzug als Vergewaltigung. Lucia hat ihren Bräutigam Lord Arturo in der Hochzeitsnacht getötet, ein Akt der Verzweiflung, geboren aus dem Wahnsinn.

Schwesterliche Solidarität als Ressource für die Zukunft
Als das Geschehene offenbar wird, wendet sich die Gesellschaft von ihr ab. Nur Fantasima, die Lucia äußerlich gleicht, steht ihr zur Seite. Die stumme Figur, verkörpert von Patricia Felsch, steht in schwesterlicher Solidarität bei, trennt Lucia vom Leichnam Bucklaws und räumt die Trümmer der Tat fort. Fantasima symbolisiert den Ausweg aus dem Machtapparat Patriarchat: schwesterliche Solidarität ohne Wenn und Aber.
Die Männer werden nicht pauschal als „toxische Täter“ gezeichnet, sondern als Mitopfer. In Enrico wächst die Erkenntnis eigener Schuld, je stärker er den Verfall seiner Schwester begreift. Edgardo wiederum treibt das Schicksal der Geliebten in den Selbstmord.
Großzügig, aber etwas überdeutlich streut die Inszenierung Symbole für ihre feministische Lesart: Immer wieder erscheint groß die Zahl 360. Sie erinnert an die im Jahr 2023 gezählten Femizide. „Lucia di Lammermoor“, eine absurde Romanze aus dem 18. Jahrhundert, wird so einerseits wohltuend begradigt, andererseits mit neuen Symbolen aufs Neue bedeutungsschwanger aufgeladen.
Mut zur Zuspitzung
Der Premierenjubel galt auch dem Mut, Donizettis Belcanto-Oper auf diese Weise zu deuten. Der Weg zahlt sich aus: In zweieinhalb Stunden Spieldauer gibt es keine einzige langweilige Minute. Die Handlung wird zum Krimi, der auch vor Elementen wie Slow Motion, Gangsterbraut-Kostümen oder gezielter Rührseligkeit nicht zurückscheut. Der Auftritt der Jäger erinnert fast an das „Wirtshaus im Spessart“.
Artisi, die sich während ihres Studiums auch mit Opernparodien befasst hat, setzt dies mit Witz und Geschick ein. Besonders die Damen des Chors glänzen durch feine Theatralität; die Herren des von Judit Bothe vorbereiteten Chor- und Extrachors demonstrieren stimmliche Eleganz. Stellenweise, 3. Akt, bestand kein Grund zu forcieren.

Musikalische Meisterleistungen
Die musikalische Umsetzung ließ keine Wünsche offen. Das Ensemble meisterte das anspruchsvolle Werk weitgehend aus den eigenen Reihen.
Julia Gromball gestaltete die gefürchtete Titelpartie klangstark, jugendlich strahlend und mit wunderbar ausgeführten Koloraturen. Mit wachsender Freiheit löste sie sich im Spiel von bloßer Konzentration auf die Stimmführung und überzeugte bis in die höchste Lage durch Ausdruck und Gestaltungskraft.
Jongwoo Kim debütierte als Edgardo mit einem hellen, sehr männlichen und glaubwürdig geführten Tenor. Besonders berührend: seine große Grabmalszene voller Innigkeit und Emphase – nach der das Publikum kaum zu atmen wagte. Kim ist hierzulande bereits als Rodolfo in „La Bohème“ in Dessau und Dresden bekannt.
Alexandro Lárraga Schleske zeichnete den Bruder Enrico als zugleich brutale wie bemitleidenswerte Figur – mit mächtigem, markantem Bariton.

Philipp Meyer verlieh dem Priester Raimondo Tiefe und Vielschichtigkeit, stimmlich abgerundet und fließend. Wo die Regie etwas ratlos schien, vollendete Meyer, der auch eine Ausbildung in modernem Bühnentanz hat, die Figur zum glaubwürdigen Charakter.
Sergej Kostov als Arturo sowie Johannes Pitzonkas und Franziska Weber als Alisa überzeugten künstlerisch auf hohem Ensembleniveau.
Ein besonderes Klangereignis war die von Sascha Reckert live auf offener Bühne gespielte Glasharmonika – fast wie eine musikalische Person im Drama.
Thomas Wicklein leitete das Philharmonische Orchester mit großem Feingefühl für Dynamik, Balance und „das Italienische an sich“. Unter seiner präzisen und zugleich atmenden Stabführung konnte sich das Sängerensemble bei allen stimmlichen Herausforderungen sicher fühlen.
Fazit
Eine mutige, konsequent feministische Lesart von Donizettis „Lucia di Lammermoor“, die musikalisch glänzend getragen und theatralisch überzeugend umgesetzt wurde – spannend, berührend, verstörend.
Annotation
„Lucia di Lammermoor“ Oper in drei Akten von Gaetano Donizetti, Libretto von Salvatore Cammarano, nach der Erzählung The Bride of Lammermoor von Sir Walter Scott. Theater Altenburg Gera. Musikalische Leitung: Thomas Wicklein, Inszenierung: Elena Maria Artisi, Ausstattung: Mirjam Miller, Choreinstudierung: Judith Bothe, Dramaturgie: Dr. Peter Larsen, Philharmonisches Orchester Altenburg Gera, Opernchor des Theaters Altenburg Gera.
Besetzung
Lord Enrico Ashton Alejandro Lárraga Schleske, Lucia, seine Schwester Julia Gromball, Sir Edgardo di Ravenswood, ihr Geliebter Jongwoo Kim, Lord Arturo Bucklaw Sergej Kostov, Raimondo Bidebent, Geistlicher, Erzieher und Vertrauter Lucias Philipp Mayer, Alisa, Lucias Vertraute Franziska Weber, Normanno, Hauptmann Johannes Pietzonka, Fantasma Patricia Felsch
Glasharmonika: Sascha Reckert
Creditis
Premiere und besuchte Vorstellung 14.10.2025; veröffentlicht 16.10.2025
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig
Fotos: Ronny Ristok
Kunst und Technik Das Onlinemagazin
