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LEIPZIG: Ich bin, was ich nicht bin, war oder wäre

LEIPZIG: Ich bin, was ich nicht bin, war oder wäre

Das „Pink Hotel Lulu“ macht in der Schauhaus-Diskothek die Realitätsflucht möglich

Da fühlt man sich besser als zu Hause: Wo? Im „Hotel Pink Lulu“. Nettes Personal umsorgt einen und erfüllt jeden Wunsch. Wirklich jeden! Dort ist jedes Leben möglich, ganz so wie man’s möchte. Ä Träumchen! „Herzlich willkommen im Hotel Pink Lulu, die Welt der unendlichen Wünsche und Erfüllungen. Bitte wählen Sie sich einen Namen, eine Optik, eine Verdienstquelle, eine Beziehung, eine Landschaft, ein Land, eine Erinnerung, ausgewähltes Essen, ausgewählte Getränke, Savannenlandschaft, Kirschblüte, Cocktail am Nil, wählen Sie sich eine Lebensgeschichte, eine Herkunft, eine, die Sie sich schon immer gewünscht haben.“ Wählen Sie selbst! Da simmer dabei, das ist prima.

Und wer hat sich all das Schöne ausgedacht? Wer setzt sich immerdar für unser Wohlergehen ein? – Keine Frage: Jede Regierung. In naher Zukunft können mit ihr auch in virtuelle Welten fliehen und unsre persönliche Freiheit selbst kreieren. Wow! Die Zukunft ist nah. Im Theater ist sie schon da. Emre Akal hat über „Die Ersatzwelt“ das Stückchen (75 min) geschrieben und Preise dafür abgefasst. In Leipzig erlebte es unter der Regie von Pia Richter seine Uraufführung.

Bei Frank Wedekind und Werner Schwab ist „Lulu“ sexuell konnotiert, Emre Akal sieht die Lust vorstellbar technisch. So laufen auf offener Bühne zunächst nur die Zahlen der Programmierer. Dann kommen die Armen, die es in der Realität nicht mehr aushalten: Fatma (Christoph Müller), die lieber Martha heißen würde und ihrer ewig besorgten Tochter entfliehen möchte. Joachim (Patrick Isermeyer), der schwule Adonis, der keinen passenden Mann für sich findet. Claudia aus Köln (Paulina Bittner), der die Karriere bislang versagt blieb. Das syrische Pärchen Ayla und Nadjib (Eidin Ayali, Denis Grafe), das gerne seine Pistazien-Plantage wieder bewirtschaften würde. Und staatlich gefördert wird das Programm, das sie hinein ins pure Glück stolpern lässt. Jeden Wunsch von den Augen ablesend umsorgt der Hotelservice seine Gäste mit den Robotern in Serie Lulu 6.0 (Annett Sawallisch, Thomas Braungart). Die machen die Deprimierten zu lebensfrohen Helden, so wie ein jeder in Wirklichkeit sein will. Ganz ohne Probleme läuft das freilich nicht – schönes Theater!

Tatsächlich ist dem Team die Uraufführung vom „Hotel Pink Lulu“ in einem Stück gelungen. Zwar ist schwerlich der Handlung zu folgen, sie springt von Protagonist zu Protagonistin zu Roboter*in, ganz so wie’s der Verzweifelte im realen Internet immer wieder versucht. Lulu-Lust aber macht das knallbunte Bühnenbild (Julia Nussbaumer) voller Ballbäder, in denen die Glücklichen immer wieder versinken. Optische Höhepunkte sind die Kostüme (ebd.) von Wollmuskeln, Latexhunden bis hin zu den Schwellköpp. Das ist jeder guten Show so: Fühlt man sich optisch gut unterhalten, übersieht man gern die dramaturgischen Schwächen. Auch das Ensemble bildet eine Einheit, deren Sprachlust und -verzweiflung hörbar über die Rampe kommt. Natürlich ist all das Glück nicht von Dauer – das Internet ist kein Märchen, erst recht nicht in Regierungsworten, die stets von aller Wohl künden, das dann die realen Umständ‘ verhindern. Aber was tun, wenn der Saft für die virtuellen Computer-Welten einfach abgedreht wird? Realitätsflucht hat sich noch niemals gelohnt, auch wenn Regierungen uns immer wieder den Himmel auf Erden versprechen.

Henner Kotte

ANNOTATION

Hotel Pink Lulu (UA). Die Ersatzwelt. Von Emre Akal. Regie Pia Richter; Bühne & Kostüme Julia Nussbaumer; Dramaturgie Georg Mellert; Licht Thomas Kalz; Theaterpädagische Betreuung Babette Büchele. Besetzung:  Eidin Jalali als Ayla; Denis Grafe als Nadjib, Lulu 7.0; Christoph Müller als Fatma; Patrick Isermeyer als Joachim; Paulina Bittner als Claudia aus Köln; Annett Sawallisch, Thomas Braungardt als Lulu 6.0; Anne Cathrin Buhtz als Stimme aus dem Flurlautsprecher

CREDITS

Premiere 19.11.2021; veröffentlicht 30.11.2021

Foto: © Rolf Arnold

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